„Ich war eine Enklave“

■ Teil 11 der taz-Sommerserie spielt auf der Halbinsel Priwall: „Abgeschnitten haben wir uns nicht gefühlt“

„Früher konnten wir nachts mit dem Fernglas gucken, ob drüben einer steht, jetzt fahren wir Tag und Nacht durch: Nur Arbeit.“ Seit der Maueröffnung sei der Fährverkehr um mindestens fünfzig Prozent gestiegen, sagt der Schiffer auf der Fähre von Travemünde zur Halbinsel Priwall auf der mecklenburgischen Seite der Trave: vierzig Jahre lang war in dieser Enklave nach wenigen Kilometern die Welt zu Ende: „Halt! Hier Grenze!“ stand am Strand auf großen Schildern, die längst verschwunden sind: Ein Land, ein Strand, nur ein ehemaliger Wachturm ist als letztes Relikt der sozialistischen Vergangenheit auf verlorenem Posten stehen geblieben. Bei den Grenztruppen war er früher einer der beliebtesten Wachtürme der ganzen DDR, weil man von oben so eine prima Sicht hatte: Das letzte Ende auf Westseite war und ist der FKK-Strand Travemündes, kurabgabepflichtig, wie ein neues Schild an der Stelle verkündet, wo früher die Grenze war.

Frau Lubowski, eine nachdenkliche Frau Ende der sechzig und gebürtig in Westpreußen, wohnt seit 1949 in der Mecklenburger Landstraße auf Priwall: „Abgeschnitten haben wir uns nicht gefühlt.“ Sie erinnert sich an die Gefangenenlager nach dem Krieg und an die kleinen Schmuggeleien, anfänglich an der Zonengrenze, hauptsächlich Heringe und Zigaretten. Vom Hinterland abgeschnitten, wurde Priwall zur Kleingartenkolonie der Lübecker, in der sich ein Wochenendhaus ans nächste quetscht. Ansonsten wußte man nicht so genau, was man mit diesem abgetrennten Eiland anfangen sollte. Es gibt dort ein Krankenhaus, eine Reha-Klinik, eine Jugendbegegnungsstätte und ein Berufsbildungswerk: Die Stadt Lübeck parkte dort ihr soziales Gewissen. Heute befindet sich vorne an der Promenade mit Panorama-Blick auf den Travemünder Hafen eine Großbaustelle: „Hier entsteht die Rosenhof-Anlage“, ein Altenheim der Luxusklasse. Am anderen Ende der Halbinsel sieht es desolater aus: Wo der Westen aufhörte, steht heute eine Telefonzelle, die Buswendestelle geht jetzt als Sandweg weiter, dessen eine Hälfte mit alten Mauerplatten wetterfest gemacht wurde. Auf der östlichen Seite des Grenzstreifens wird man von gleich zwei Imbißbuden im gemischten Ost-West- Doppel empfangen, dazwischen ein Toilettenhäuschen, drumherum ein paar eilig verpflanzte Laternen. Ein Stück weiter, auf einer mecklenburgischen Hügelkuppe, steht das frisch gestrichene Einfamilienhaus der Drews mit freiem Blick auf das Travemünder Wahrzeichen, das Hochhaus des Maritim-Hotels. Gerade 500 Meter steht ihr Haus vom Wasser entfernt, doch baden konnten sie früher nicht. Im neuen Deutschland haben die Priwaller zumindest eine Sorge weniger: Schon lange hatten sie von der Stadt ein neues Fährschiff gefordert, das mit dem Trave-Eis im Winter fertigwird. Die Anschaffung hat sich mit der Landgewinnung im Osten erledigt — ein rares Beispiel, wie mit der Deutschen Einheit Geld gespart wurde. Lutz Ehrlich