Ein schwieriger Strafprozeß

■ Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen wird es enorm schwierig, Honecker des Totschlags an der Mauer zu überführen

„Ich habe unter Honecker 12 Jahre in Bautzen gesessen. Jetzt soll der endlich dafür büßen.“ Die Erwartung dieses Mannes, der vor dem Knast in Moabit seine Empörung gegen Erich Honecker kundtut, wird sicher enttäuscht. Der Prozeß gegen Honecker, so werden die zuständigen Justizministerinnen Jutta Limbach und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nicht müde zu betonen, könne keine Auseinandersetzung mit der moralischen oder politischen Schuld des ersten Repräsentanten der ehemaligen DDR leisten. Es gehe ausschließlich und streng rechtsstaatlich darum, die strafrechtliche Schuld Erich Honeckers zu prüfen.

Ob eine mit dem Strafrecht meßbare Schuld besteht, ist weithin umstritten. Selbst Ex-Justizminister Kinkel baute gegen mögliche Enttäuschungen bereits vor: Rechtsstaatlich bedeute, daß auch ein Freispruch dabei herauskommen könne.

Die Staatsanwaltschaft am Berliner Kammergericht, die zwei Jahre gegen Honecker und andere ehemalige Mitglieder des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR ermittelte, ehe sie Anfang Juni ihre Anklage präsentierte, gibt sich sehr sicher. Auf knapp 800 Seiten hat eine Sondergruppe der Staatsanwaltschaft zusammengetragen, was ihrer Meinung nach beweist, daß Honecker des Totschlags in 49 Fällen schuldig ist. Zusammen mit dem früheren Ersten Mann sollen Ex-Stasichef Erich Mielke, Ministerpräsident Willi Stoph, Verteidigungsminister Heinz Keßler, sein Stellvertreter Streletz und der damalige SED- Bezirkschefs Hans Albrecht auf die Anklagebank. Allen gemeinsam war ihre Mitgliedschaft im Nationalen Verteidigungsrat der DDR, dem Gremium, in dem unter anderem die Maßnahmen zur Grenzsicherung besprochen wurden. Geahndet werden sollen die Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze.

Der Schießbefehl ist nicht aufzufinden

Warum Honecker und seine ehemaligen „Kampfgefährten“ ausgerechnet für 49 erschossene Flüchtlinge verantwortlich sein sollen, erklärt Berlins Generalstaatsanwalt mit den Schwierigkeiten bei der Ermittlung. „Wenn wir erst in allen angeblich mehr als 300 Todesfällen ermittelt hätten, hätten wir das Lebensalter der Angeschuldigten weit übertroffen, ehe es überhaupt zum Prozeß gekommen wäre.“ Naumann gibt zu, daß die Fahnder trotz intensiver Suche den Schießbefehl Honeckers nicht gefunden haben, weil er wahrscheinlich gar nicht existiert. Statt dessen habe man verschiedene Einzeldokumente. Aus ihnen ergebe sich als Gesamtbild, daß der Nationale Verteidigungsrat unter dem Vorsitz Honeckers Schüsse zur Verhinderung einer Flucht gewollt habe.

Bekannt sind von Honecker zwei protokollierte Äußerungen zu den Schüssen an der Mauer. Die erste stammt aus einer Lagebesprechung sechs Wochen nach dem Mauerbau 1961, in dem Honecker darauf hinweist, daß die Grenztruppen zur Verhinderung einer Flucht auch schießen sollen. Die zweite Protokollnotiz, die Honecker persönlich erwähnt, stammt aus einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974. Laut Protokoll hat er in dieser Sitzung betont, daß zur Grenzsicherung auch von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden soll und Grenzer, die geschossen hätten, belobigt werden sollen.

Die Äußerung läßt an Honeckers Überzeugung zum damaligen Zeitpunkt keinen Zweifel. Nur, ist sie auch strafrechtlich relevant? Begründet sie seine direkte Täterschaft als Totschläger, wie die Staatsanwaltschaft meint? Honeckers Anwälte sehen darin eine Meinungsäußerung, die keinerlei kausalen Zusammenhang mit einem konkreten Schuß an der Grenze hat. Die Grenzsoldaten hätten über Debatten im Nationalen Sicherheitsrat keinerlei Kenntnis gehabt, wie hätten sie also Honeckers Meinung als Rechtfertigung für ihr konkretes Handeln heranziehen können.

Seit Mai 1982 gab es darüber hinaus ein von der Volkskammer verabschiedetes Grenzgesetz, in dem der Schußwaffengebrauch genau geregelt war. Sollte ein Grenzer dagegen verstoßen haben, könne man dies nicht der politischen Führung zur Last legen. Im übrigen sei Honecker für das Grenzgesetz nicht mehr und nicht weniger verantwortlich, als alle anderen damaligen Mitglieder der Volkskammer auch.

Honeckers Anwälte stellen Anklage in Frage

Honeckers Anwälte, Friedrich Wolff und Nicolas Becker, wollen sich mit der Widerlegung der Vorwürfe im Detail aber nicht begnügen. Für sie steht die Zulässigkeit der Anklage grundsätzlich in Frage. Das Handeln Honeckers könne gar nicht losgelöst von der damaligen politischen Situation be- und verurteilt werden. Als die Mauer 1961 gebaut wurde, war dies eine letzte Notbremse zur Stabilisierung der DDR, dem damals wichtigsten Brückenkopf für die Sowjetunion nach Westeuropa. Aus Sicht Ulbrichts und Honeckers sei der Bau der Mauer das letzte Mittel gewesen, um die Sowjets davon abzuhalten, militärisch zu intervenieren.

Alle Argumente werden aber nichts mehr daran ändern, daß Honecker nun doch vor Gericht gestellt wird. Im Herbst, so Berlins Justizsenatorin Limbach, soll der Prozeß unter Leitung des stadtbekannten Richters Bräutigam eröffnet werden. Experten rechnen mit einer langen Prozeßdauer — möglich, daß der Angeklagte das Ende gar nicht mehr erlebt. Jürgen Gottschlich