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Vermutlich trägt er einen hellen Mantel

■ Berlin Tegel — ein magischer Ort: Tausende Berliner strömen zum Flughafen, um dort nichts sehen zu können/ Neuer Volkssport: Honni-Gucken/ Vor allem die Photographen haben das Nachsehen

So sehr die Fotografen auch an ihren klotzigen Objektiven drehen: Der kleine Mann im Sucher wird einfach nicht größer. Die russische Tupolew, die am Mittwoch abend um 20.07 Uhr auf dem Flughafen Berlin- Tegel gelandet ist, wird vom Piloten außer Kamerareichweite zum Stehen gebracht. Am äußersten Ende des Rollfeldes verläßt Erich Honecker nach zwei Stunden Flugzeit dann die Maschine. Noch in der Nacht stellen die Photographen nach enervierenden Vergrößerungsarbeiten in ihren Laboren fest: Das Objekt der Begierde hat wahrscheinlich einen hellen Sommermantel getragen, als er die Gangway herunterschritt. Mehr geben die Bilder nicht her.

Berlin-Tegel — ein magischer Ort. Blitzschnell haben sich die Verrückten dieser Stadt vor Gate17 eingefunden: Journalisten, Spartakisten, Antikommunisten. Die Journalisten beobachten zunächst das Landemanöver der Tupolew und stellen dann per Funktelefon in ihre Redaktionen durch: „Nu isser da. Ich seh nix.“ Dann wenden sie sich, in Ermangelung eines faustballenden, redenschwingenden und strohuttragenden Greises, den Spartakisten zu: Honecker ist noch nicht gelandet, geschweige denn verhaftet, da fordern die Anhänger der Spartakist-Arbeiterpartei vor einem Eingang des Flughafens schon: „Freiheit für Erich Honecker! Nieder mit der Klassenjustiz!“ Als eine Polizeiwanne vorfährt, brechen die Politsektierer ihren Protest ab und streiten vereinzelt mit anderen Bürgern.

Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und ehemaligen DDR-Flüchtlingen, die sich ebenfalls eingefunden haben, kommt es wider Erwarten nicht. Den Kommunisten, die auch Hammer-und Zirkel-Flaggen mit sich tragen, wird aber mehrfach und eindringlich versichert: „Euch hamse wohl mit'n Klammerbeutel jepudert!“ Wie Gespenster aus einer anderen Zeit sind sie plötzlich aufgetaucht, haben Flugblätter verteilt und Reden geschwungen. „Mutig sind die ja!" murmelt ein Zuschauer verwirrt, „aber blöd sind die trotzdem!"

Honecker ist da, und ein Volkssport ist geboren: Honni-Gucken. Tausende Männer, Frauen und Kinder postieren sich, mit Fotoapparaten und Videokameras bewaffnet, an den Ausfallstraßen des Flughafenareals. Kurz vor halb neun ist es soweit. Eine aus Luxuslimousinen bestehende Wagenkolonne rauscht mit hoher Geschwindigkeit an den Passanten vorbei. Doch die getönten Fensterscheiben verhinderen einen Blick in das Innenleben der Autos. So können die Freizeitphotographen nicht einmal ausmachen, in welcher der vier dunklen Diplomatenkarossen der Gesuchte sich aufhielt. Wüßte man nicht, daß hier jemand dem Haftrichter zugeführt werden sollte, man könnte glatt glauben, ein Staatsgast wäre gerade eingetroffen: Straßen wurden abgesperrt, Blaulicht und Sirenen sind im Einsatz.

Vor den Mauern der Justizvollzugsanstalt Moabit, in der auch der andere Erich untergebracht ist, versammeln sich ebenfalls Tausende. Eine Stunde, nachdem sich die schweren Gefängnistore hinter der Autokolonne schließen, verkündet ein Justizsprecher, Honecker sei sofort dem Richter vorgeführt und verhaftet worden. Honni mußte ohne Abendbrot ins Bett — diese Behauptung lanciert jedenfalls ein Wachtmeister, der hinter Gittern seinen Dienst versieht.

Es gibt welche auf dem Flughafen, die schreien „Hurra! Nu isser endlich da!“ Und andere, die vor dem Knast „Mörder, Mörder!“ skandieren oder „Kopf ab!“ fordern. Der überwiegenden Mehrheit der Schaulustigen, die Honni-Gucken wollen, kommen Beschimpfungen aber nur schwer über die Lippen. „Det is'n Gangster. Aba alt issa ooch!“ meint ein etwa 50jähriger Ostberliner für viele. Daß der Kommunist aber beim Abschied in Moskau die linke Faust geballt hat, bevor er in den blauen Volvo stieg, das nehmen ihm die Zaungäste übel: „Frechheit, sowas. Und Margot, die feige Kuh! Läßt den Alten aleene. Hattse eigentlich noch blaue Haare?"

Als die Wagenkolonne aus dem Blickwinkel der Voyeure entschwindet, löst sich der Tegeler Massenauflauf so schnell wieder auf, wie er entstanden ist. Nur einige Hartnäckige säumen auch noch um zehn Uhr abends die Auffahrt zur Autobahn am Flughafen, glotzen neugierig in jeden vorbeifahrenden Daimler. Enttäuscht wenden sie sich wieder ab, wenn ihresgleichen aus den offenen Fenstern guckt. Wer zu spät gekommen ist, muß Fernsehen gucken.

Das brilliante Honecker-Foto, das um die Welt gegangen wäre, wird in Tegel nicht geschossen. Die Tupolew ist viel zu weit weg. Was hätte der Photograph, dem dieser Schnappschuß gelungen wäre, an Ruhm geerntet, an Geld verdient. So zieht der Bildreporter mit dem dicksten Objektiv am Platz — 1000 Millimeter Brennweite — traurig von dannen.

Die fliegenden türkischen Händler am Brandenburger Tor und Checkpoint Charly aber, die Devotionalien aus der Zeit des realen deutschen Sozialismus feilbieten, machen nun wieder ein gutes Geschäft. Für ein Honecker-Portrait, das bis zum Herbst 1989 in jeder DDR- Amtsstube hing, verlangten sie bis Mittwoch mittag kaum mehr als 50 Mark. Seit Honecker wieder in Deutschland ist, kostet sein DINA2 großes Konterfei mindestens das doppelte.

Claus Christian Malzahn

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