"Zuneigung wird durch Zucker ersetzt"

■ In der Obdachlosen-Unterkunft im Hamburger Stadtteil Lurup leben 170 Menschen, darunter 105 Kinder. Sie kommen mit der Ghetto-Situation nur schwer zurecht.

leben 170

Menschen, darunter 105 Kinder. Sie kommen mit

der Ghetto-Situation nur schwer zurecht.

Bobo ist portugiesisch und heißt Dummkopf. Der fünfjährige Junge, der diesen Spitznamen trägt, ist alles andere als dumm, sondern lebhaft und aufgeschlossen. Nur manchmal drängt er sich ganz dicht an die Beine eines Erwachsenen, hält sie kurz umschlungen und läuft dann schnell weg. Sozialarbeiterin Iris Berkel erklärt dieses Verhalten mit fehlender Zuwendung: „Bobo sucht nach Zärtlichkeit, aber gleichzeitig hat er Angst, zurückgestoßen zu werden.“ Das beobachte sie überhaupt bei vielen Kindern in der Obdachlosenunterkunft: „Sie können keine Beziehungen aufbauen. Auch wenn sie als Gruppe auftreten, bleibt jedes für sich.“

Die Wohnunterkunft für obdachlose Familien wirkt wie eine langgestreckte Baracke am Rande der zum Stadtteil Lurup gehörenden Siedlung am Osdorfer Born. Seit 30 Jahren werden dort Menschen untergebracht, die sonst nirgends eine Wohnung finden. „Wir wohnen im Ghetto“, sagen die Kinder und weisen auf den roten Fertigbau mit fünf Eingängen und gleichmäßig angeordneter Fensterfront. Erst vor einem Jahr wurde das Haus grundlegend renoviert. In den 36 Wohnungen leben jetzt 170 Personen; knapp zwei Drittel davon sind minderjährig.

Iris Berkel steht ihrer Arbeit kritisch gegenüber: „Ich muß mir das Vertrauen der Menschen erschleichen, um sie zu kontrollieren.“ Die Frau, die von sich sagt, sie sei berufsbedingt gegen die Probleme der Bewohner abgestumpft, ist ein eher fröhlicher Typ. Deshalb ist sie beliebt. Regelmäßig treffen sich Mütter bei ihr zu einem Plausch. Sie kommen gerne, denn hier ist es ruhiger als in den Wohnungen. Geredet wird, wie anderswo auch, über Nachbarn und Kinder. „Manuel hat“, erzählt eine Frau, „meinen Marco verprügelt.“ Sie habe ihrem Sohn gesagt, er solle sich endlich wehren. „Und Jakobine kam neulich mit einem Knutschfleck nach Hause.“ Dabei sei sie erst acht. Während der ganzen Zeit schreit die kleine Jasmine auf dem Schoß ihrer teilnahmslos wirkenden Mutter. Die 24jährige, die älter aussieht, beachtet das Kind kaum. Irgendwann wird es still.

In diesem Kreis verhält sich Iris Berkel vorsichtig, fast schüchtern. „Die Umgangsformen sind härter, die Sprache oft gewöhnlich.“ Viele Frauen hätten Macho-Männer, „stehen zwischen ihnen und den Kindern“. Mädchen würden liebloser behandelt als Jungen, müßten bald der Mutter helfen. „Dadurch sind sie einerseits frühreif, brauchen aber noch Wärme, die sie nirgends bekommen.“

Nebenan toben Jakobine und die zwölfjährige Petra über den Flur. Sie haben Nuckelflaschen mit Wasser gefüllt und saugen daran. Kurz darauf wird Petra aggressiv, schreit die anderen Kinder an. Jakobine schleckt mit unzweideutiger Geste ihren schokoladebestrichenen Finger ab. Erst als es Kekse gibt, kehrt wieder Ruhe ein. Jedes Kind versucht, möglichst viele zu bekommen. „Zuneigung wird durch Zucker ersetzt“, weiß Iris Berkel.

Insgesamt 500000 Kinder und Jugendliche wohnen nach Angaben des Kinderschutzbundes in deutschen Obdachlosen-Unterkünften. Allein in Hamburg leben derzeit 600 Familien in solche Wohnheimen. Von diesen 2000 Menschen sind 40 Prozent jünger als 18 Jahre. Die Zahlen steigen mit wachsender Wohnungsnot, die zunehmend kinderreiche Familien trifft.

Probleme sind programmiert. „Entweder leben neun Personen auf nur 100 Quadratmetern, oder die Erwachsenen sind arbeitslos, sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher“, berichtet Hausverwalter Karl-Heinz König von seinen Erfahrungen im Osdorfer Born, „wenn da Kinder im Pulk auftauchen, ist gleich dicke Luft.“

In den fast zehn Monaten seiner Tätigkeit hat der ehemalige Bauleiter viele Beschwerdebriefe an die Bewohner geschrieben und eine Menge ernster Gespräche geführt. Sylvester sind Briefkästen gesprengt worden, und vor ein paar Wochen mußten zwölf Wohnungen desinfiziert werden. Auf dem Fensterbrett seines Büros hat Karl-Heinz König noch ein Weckglas mit Wanzen und Kakerlaken. Oft sind die Familien mit den Mieten von 170 bis 480 Mark, für Wohnraum zwischen 40 und 100 Quadratmetern, im Rückstand.

Für die Kinder hat der 47jährige in einem kleinen, weißgetünchten Raum eine einfache Modelleisenbahn aufgebaut. Eine Sperrholzplatte mit grünem Rasentuch, Schienen, ein paar Bäumen und Häusern. Manche Kinder kamen jeden Nachmittag, um die Züge fahren zu lassen. Hobbyeisenbahner König war beruhigt, wenn sie friedlich spielten, „anstatt die Hauswand zu beschmieren oder frisch gepflanzte Blumenrabatten zu zertreten“. Vor kurzem mußte er Loks und Waggons wegschließen. „Jugendliche sind bei uns eingestiegen.“ Sie haben Schreibtische aufgebrochen, Telefone herausgerissen, 500 Mark aus der Kasse geklaut. Die Kripo wurde eingeschaltet, es gab Festnahmen. Karl-Heinz König ist enttäuscht, auch wenn seine persönlichen Sachen unangetastet blieben: Es waren Jugendliche aus der Unterkunft.

Im Wohnzimmer von Britta Lütge* nimmt ein dunkelbrauner Eichenschrank die Fläche einer Wand ein, die Polstergarnitur ist um einen flachen Tisch gruppiert, in zwei Ecken stehen die Boxen der Stereoanlage. „Seit wir hier woh-

1nen, hat sich das Benehmen meiner Kinder verändert“, erzählt die Mutter von vier Söhnen und drei Töchtern. Bobo sitzt neben seinen Brüdern Jan* und Martin* schüchtern in einem breiten Sessel und spielt mit seinem bunten Plastik-Klappmesser. Der 17jährige Matthias* steckt sich eine Zigarette an. „Hier wohnen nur bekloppte Leute.“ Manchmal, so sagt er, dröhnt morgens um vier laute Musik durch das Haus. Die Bewohner würden sich gegenseitig das Benzin aus ihren Autos abzapfen. Freunde hat Matthias nicht, „aber besser so, als falsche Freunde“. Seine Mutter wirft einen strengen Blick auf ihn: „Sag ruhig, was Du gemacht hast.“

Matthias zieht sich noch mehr in die Ecke des Sofas zurück und lächelt unsicher. „Er hat im Büro der Verwaltung eingebrochen“, erzählt Britta Lütge anstelle ihres Sohnes. Ein anderer hätte ihn dazu angestiftet, sie seien zu dritt gewesen. „Früher haben sie schon einmal Autoradios geklaut.“ Warum er mitgemacht hat? Matthias weiß es nicht mehr. Vielleicht aus Langeweile oder um Anerkennung zu finden. Als der Verdacht auf ihn fiel, hat er sofort alles zugegeben — er kann nicht lügen. Wie er sich während des Einbruchs gefühlt hat? Ein bißchen wie die Krimihelden aus dem Fernsehen. Deshalb haben sie auch das Büro verwüstet. Für einen Moment war er nicht allein, er kam sich wichtig vor. Am nächsten Morgen war alles um so schlimmer.

Seinen Anteil von 50 Mark hat Matthias zurückgegeben, aber im Haus hat es sich trotzdem herumgesprochen, daß er ein Einbrecher ist. Nie mehr würde er so etwas machen, sagt er. „Im Herbst fängst Du mit einer Lehre als Automechaniker an, nicht Matthias“, hofft seine Mutter. Fünf Lehrstellen hat er schon aufgegeben, „einmal muß doch etwas Vernünftiges aus ihm werden“. Zur Zeit reißt er Eintrittskarten auf Catchveranstaltungen ab, bei denen seine Eltern als Ringer arbeiten.

Vorurteile gegen die Unterkunft spürt Britta Lütge täglich. „Im Fotogeschäft guckt mich der Verkäufer jedesmal an: Ach, daher kommen Sie, sagt er, wenn er die Adresse sieht, da ist aber oft die Polizei.“ Die Kleinen haben Schwierigkeiten in der Schule. Eine

1Lehrerin hätte sogar dem Gesundheitsamt gemeldet, sie würden zu Hause verkommen. „Dabei haben wir eine ganz normale Wohnung — nur ein bißchen eng.“

Gegenüber der Wohnunterkunft ist in einem flachen Plattenbau das Haus der Jugend untergebracht. Ein Treffpunkt für viele Kinder aus der Gegend, ungefähr 60 kommen jeden Tag. Auf der Treppe neben dem Eingang wartet Jakobine — es ist noch nicht geöffnet. Alleine macht das Mädchen einen ängstlichen Eindruck, sie bringt kein Wort heraus, und ihre Augen suchen hilflos das Weite.

Die schmale Treppe führt in die erste Etage. Der Blickfang dort ist ein abgespielter Billardtisch. „Der ganze Stolz der Kids, den sie möglichst pfleglich behandeln“, erzählt Hausleiterin Frauke Mickel. An einer Pinnwand hängen kleine Zettel, auf denen Kinder sich vorgestellt haben. Das Blatt von Jakobine ist etwas unter den anderen versteckt. Ihr Lieblingstier ist ein Hund, ihr liebstes Spielzeug eine Barbiepuppe mit rosa Kleid. Ihr größter Wunsch: Daß alle Menschen sich vertragen.

„Vor zehn Jahren war es hier noch wesentlich schlimmer“, erinnert sich Frauke Mickel, „die Jugendlichen sind durch Fernsehen, Video und Drogen ruhiggestellt.“ Schnüffeln sei ziemlich weit ver-

1breitet. „Hauptprobleme sind Arbeitslosigkeit und Lebensfrust.“ Die Sozialpädagogin arbeitet seit 20 Jahren mit Jugendlichen. Aus ihrer Sicht haben sie es im Osdorfer Born nicht schwerer als anderswo: „Sicher, das ist hier nicht die Nobeladresse, die Unterkunft schon gar nicht, doch Ärger gibt es auch in feineren Stadtteilen.“

Als Ansprechpartner sind die Mitarbeiter vom Haus der Jugend akzeptiert. „Wenn ihnen ein Problem über den Kopf wächst, kommen die Kids damit zu uns“, erzählt die Hausleiterin. „Bei ernsten Situationen nehmen sie aber leicht Reißaus“, ergänzt ihre Kollegin Susanne Rickert.

Täglich ist vor dem Einkaufszentrum im Osdorfer Born Flohmarkt. Auf Handtüchern und Decken breiten Kinder ihre Waren aus: Schlittschuhe, Springseile, Comic-Hefte. Sie feilschen mit den Kunden um die Preise — oft stehen Mütter im Hintergrund, passen auf. Das Handeln ist für die Halbwüchsigen kein Spaß, es geht um Geld. Während sie um die besten Plätze rangeln, kommt es auch schon mal zu handfesten Auseinandersetzungen. Dann hocken sie stundenlang auf dem Betonpflaster und warten geduldig auf Käufer.

Nur selten bleibt jemand vor den armseligen Auslagen stehen. Das Geschäft mit den gebrauchten

1Waren blüht trotzdem. Mal zehn, mal 50 Mark setzen die Kinder an guten Tagen um. Von dem Geld kaufen sie sich moderne Jacken, Computerspiele oder die neuesten Platten ihrer Stars. Manchmal müssen sie auch einen Teil davon zu Hause abgeben. Und tags darauf bauen sie ihre kleinen Stände vor dem Einkaufszentrum wieder auf.

Nach 16 Uhr sitzen die Bewohner der Unterkunft meist auf den Bänken vor dem Haus. Um diese Zeit hat Hausverwalter Karl-Heinz König seinen Dienst beendet und das Gelände verlassen. Die Menschen fühlen sich jetzt unbeobachtet. Kinder spielen Ball, Chipstüten werden herumgereicht. Ein Zeitungsbote bringt den Mädchen ihre „Bravo“ und den Frauen die „Praline“. Sie reden von den Männern auf den Fotos, während ihre eigenen Männer in den Wohnungen sitzen oder erst von der Arbeit kommen. Es wird viel gelacht. Eine ältere Frau beschwert sich lautstark, daß ihrer schwangeren Tochter keine eigene Wohnung zugewiesen wird. „Ein Skandal, daß sie nicht bei mir ausziehen kann.“

Bis zum Herbst wird ein zweiter Block bezugsfertig renoviert. Die Wohnungen sind schon längst vergeben. Weitere 40 Familien ziehen ins Ghetto. Torsten Schubert

* Namen von der Redaktion geändert