Es gab Moscheen und Kirchen

Über einen Spielplatz, hilfsbereite Bürger, Flüche und die Tragödie der bosnischen Kleinstadt Kosarac /  ■ Geschichten aus dem Flüchtlingslager

in Poppenbüttel

Poppenbüttel Markt — auf dem Parkplatz hinter dem Aldi sind 30, 40 Wohnwagen in drei Reihen aufgestellt. Die Sonne knallt auf die Steine, vereinzelt gehen Leute hin und her, warten, einige Kinder spielen. Am Rande des Parkplatzes rammen Baufahrzeuge eine Wippe in den Boden, notdürftig ist dort Sand abgekippt worden, zwei saubere, dunkelgrüne Blechbehälter für Müll sind schon fest angebracht — hier entsteht ein deutscher Spielplatz.

Es vergeht keine Viertelstunde, in der nicht ein hilfsbereiter Bürger auf den Platz kommt und was ablädt — eine Frau hat zwei Gartenstühle auf dem Gepäckträger des Fahrrads, ein Mann will einen großen blauen Müllsack mit Klamotten abladen. „Wir haben im Moment keinen Platz“, sagt ihm ein junger AWO-Betreuer mit Aufnäher an der Jacke. Die AWO geht, der blaue Müllsack wird dennoch aus dem Auto ausgeladen.

„Ich bin Österreicher, also eigentlich ein Nachbar“, sagt der

1freundliche Mann, ein Elektroingenieur. Die Bosnier, die hier leben, verstehen kein Wort deutsch, aber sie kennen die Auslade-Geste. Wer zuerst zu dem blauen Sack kommt, kann zuerst aussuchen. Aber es gibt keinen Ansturm, an gebrauchten Kleidungsstücken besteht in Poppenbüttel kein dringender Bedarf.

Ein anderes Auto hält, ein Ehepaar steigt aus, stapelweise Keks- Päckchen verschwinden hinter den Wohnwagentüren, ein Kind bekommt auch einen Plastikball. Die Gönner kennen sich schon aus auf dem Platz, sprechen oft fließend serbokroatisch. „Vor 27 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen“, sagt der Mann. Diese Woche hat er sich freigenommen, organisiert, hilft, spricht mit den Flüchtlingen, ist einfach da.

Warum dieser Bürgerkrieg? „Ich kann das nicht begreifen“, sagt er, und bringt sich selbst als Beispiel für Jugoslawien — wie er es kennt: Er ist Serbe, seine frühere Frau war Kroatin, seine Kinder sind in Kroa-

1tien geboren, seine zweite Frau ist Bosnierin. Mischehen zwischen den Ethnien und zwischen den Religionen waren in der Vergangenheit kein größeres Problem als etwa in Deutschland auch zwischen Bayern und Nordlichtern, bis plötzlich alles anders wurde. Und dennoch: Entgegen der offiziellen, auf Völkerverständigung ausgerichteten Politik im Tito-Staat sei in den Familien viel Haß gepredigt worden, glaubt der Serbe. Die Gemetzel der 40er Jahre haben Wunden hinterlassen, die unter Tito nur übertüncht waren.

1„Schreiben Sie, das ist kein Bürgerkrieg, schreiben Sie, das ist eine Schlächterei“, ruft eine Frau dazwischen, die vor 20 Jahren aus Bosnien auswanderte und fast irre wird an dem Leid ihrer Landsleute. Auch sie hat es zu diesem Wohnwagen- Parkplatz gezogen.

Ein Bosnier mit zerfurchtem Gesicht, vielleicht 60 Jahre alt, steht vor „seinem“ Wohnwagen. Er ist Bauer aus Kosarac, sagt er. Der Elektroingenieur ist bereit zu dolmetschen, so gut es geht — daß er Serbe ist, möchte er lieber nicht sagen. Warum dieser Bürgerkrieg?

1Der Bauer erzählt aus seiner kleinen Stadt, 15000 Bewohner, schätzt er, hatte Kosarac: Eines Tages waren die Tschetniks da. Auch einer seiner Nachbarn gehörte plötzlich dazu. „Wir wußten jahrelang nichts. Wir haben Tür an Tür gelebt, zusammen gefeiert“, sagt er. Über Nacht war aus dem Nachbarn ein Todfeind geworden.

Ja, der Nachbar war ein Serbe, ein Christ, aber bis dahin hatte das alles keine Rolle gespielt. Es gab in Kosarac beides, Moscheen und Kirchen. Die Moslems, in Kosarac deutlich in der Mehrzahl, hatten sich zu wehren versucht gegen die Tschetniks, ohne ernstzunehmende Bewaffnung, hilflos.

5000 junge Männer wurden in ein Lager gepfercht, gequält, ohne Nahrung gelassen, die Mädchen vergewaltigt. Dutzende seien dort verhungert, erzählt die Frau des Bauern. Die moslemischen Priester wurden ermordet, die Moschee angezündet und dem Erdboden gleichgemacht, für die beiden alten Leutchen begann die Flucht. Wie der Haß entstanden ist? Durch die Kirche, glaubt der Bauer, heimlich, irgendwie verschwörungsmäßig vorbereitet.

Die beiden sind gläubige Moslems. Als die Moschee nicht mehr war, haben sie ihre Gebete anderswo organisiert. Probleme im christlichen Deutschland? „Es gibt keine Probleme. Das einzige Problem ist: Wo sind unsere Kinder?“ sagt die Frau. Seit zwei Monaten haben sie nichts von ihnen gehört. Der eine Sohn ist 32, der andere 34. Der Bauer dreht seine tränenden Augen ab, geht ein paar Schritte weg. Das Gespräch ist zu Ende. Klaus Wolschner