EIN KÄFER MACHT KARRIERE

■ Mistkäfer aus Granit, Holz, Lapislazuli, Plastik, Türkis... Skarabäen in Ägypten

Mistkäfer aus Granit, Holz, Lapislazuli, Plastik, Türkis... Skarabäen in Ägypten

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Er läuft und läuft und läuft und läuft — um der archetypischen Basis von Produktdesign nachzuspüren, sollte man nach Ägypten reisen. Ein Auto, nun schon fast selbst ein Mythos, wird Käfer genannt, ist ein Käfer. Und ein Käfer, der Pillendreher oder Skarabäus, gehört zu den uralten Symbolen ägyptischer Mythologie. Das widerstandsfähige und ausdauernde Tierchen begegnet uns Heutigen jedoch nicht nur in der Werbung, sondern auch in anderen Zusammenhängen, als glücksbringender Marienkäfer, in Cronenbergs Verfilmung von Burroughs „Naked Lunch“, in der Literatur.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Wer kennt ihn nicht, den berühmten Einleitungssatz zu Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, in der der Vertreter Samsa zum Käfer mutiert und auf diese Weise zunächst Abstand und Sicherheit vor den Verletzungen des menschlichen Lebens gewinnt. Streckenweise läßt sich hier der Prozeß der Animalisierung als positive Utopie lesen — die Käferexistenz als Möglichkeit der frühmorgendlichen Verwandlung ins Sichere, Beständige.

Mistkäfer aus Granit, Holz, Lapislazuli, Plastik, Speckstein, Türkis, Porzellan, Alabaster, Kalkstein, Fayence, schwarz, grünlich, stechend blau, transparent, daumennagelgroß und ellenlang, wunderschön und fürchterlich kitschig, bevölkern die Souks von Alexandria bis Abu Simbel, füllen die Bauchläden der fliegenden Händler von Ober- und Unterägypten. Manche steinerne Skarabäen sind platt, liegen als flache Scheibe einschmeichelnd in der Hand; Käferbeine, Flügel, den Rechen nur mit einem feinen weißen Strich aufgemalt.

Im Dutzend gibt es sie gleich billiger — zwölf Stück für sechs Pfund, also für drei Mark, so das Ausgangsangebot im Bazar von Luxor. Eine Handvoll Skarabäen, klein, türkisfarbenes Porzellan, deren Preis sich noch herunterhandeln ließe, wollte man den verlockenden deutschsprachigen Angeboten ihrer Verkäufer folgen: „Alles kostet nichts.“

Massenhafter als je zuvor wird in Ägypten also ein Käfer produziert. Häufig begegnet einem das Tier als Emblem auf üppigen Goldringen oder als Anhänger, getragen von einem modisch gekleideten Ägypter oder einer eher fundamentalistisch orientierten Ägypterin. Das Schmuckstück ist sicher ein Touristenschnickschnack, aber gleichzeitig auch eine Art Kleeblatt für den modernen Ägypter und vielleicht aufgrund der uralten symbolischen Tradition des Käfers noch ein bißchen mehr. Egon Friedell schreibt dazu in seiner 1936 erschienenen „Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients“ recht sarkastisch: „Noch heute werden solche heiligen Käfer aus Stein, Ton und Fayence von den Ägyptern massenhaft benutzt und zum Verkauf angeboten, sie stammen allerdings zum größten Teil aus Gablonz in Böhmen.“ Gablonz an der Neiße, das heutige Jablonec nad Nisou, war bis 1945 ein bedeutendes Zentrum der Glaswarenproduktion. Die Glas- und Bijouteriefabrikation wurde dann nach Österreich und in die Bundesrepublik verlagert. Der Name des Ortes „Neu-Gablonz“ bei Kaufbeuren zeugt heute noch davon. Ob von Böhmen nach Assuan, ob vielleicht heute von Taiwan oder von China bis Kairo — der Markt der Käfer umspannt Kontinente und Kulturen.

Skarabäen überall — manchmal kommen sie einem im Mondlicht entgegen, vornehmlich die von der schwarzen glänzenden Sorte, nur ein bißchen größer als unser heimischer Mistkäfer. Und in den Lüften ist er auch zu Hause. In den Maschinen der Egypt Air sitzt er, der heilige Käfer. Die Wandinnenbekleidung der Flugzeuge wiederholen endlos drei alte ägyptische Symbole, das anch, also das Henkelkreuz des Lebenszeichens, die Schwingen des Horus und eben auch die Umrisse des Skarabäus.

Wer zählt die Käfer, nennt die Namen? Die heutigen Variationen gehen zurück auf die alten Formen, Skarabäen gab es seit der pharaonischen Frühzeit, dem Alten Reich. Man fand sie im gesamten Mittelmeerraum, in Kreta, in Troja, in Palästina.

Und im Zentrum aller Käfer steht das große Käferidol. Im Ostteil des hunderttorigen Theben, in der Tempelstadt von Karnak, hat der Käfer ein Denkmal bekommen. Am Ufer des heiligen Sees ließ AmenophisIII., der von 1402 v.Chr. bis 1374 v.Chr als König die damalige Weltmacht Ägypten regierte, einen Riesenskarabäus aus Granit mitsamt Sockel aufstellen. Das Tier ist weit über einen Meter breit, ebenso lang. Bei einer Wanderung durch die gigantische Tempelanlage vollzieht man die lange Entwicklungszeit dieser Anlage von der ptolemäischen Zeit zurück bis hin zu den Ursprüngen des Mittleren Reiches (etwa 2130 v.Chr. bis 1785 v.Chr.). Amenophis III. und der weibliche Pharao Hatschepsut setzten in Karnak etliche architektonische Akzente, zu denen auch ein Prozessionsweg gehörte, der am Heiligen See vorbeiführte. Platt liegt der Käfer, wenig konturiert aus dem Stein herausgehauen, am Beginn dieses Weges auf seinem Sockel, den Kopf zum See ausgerichtet. Wasser und Mistkäfer sind hier in der Nähe des Allerheiligsten angesiedelt — heute gehört auch noch eine Cafeteria dazu.

Käfer und Schöpfungsmythos

Was verschafft einem Käfer solch vielfältige Ehre? Was ist das überhaupt für ein Käfer? Die Mannigfaltigkeit der Käfer in der Natur übertrifft bei weitem noch die ihrer verkäuflichen, steinernen, tönernen und hölzernen Brüder in den Souks. Zur Familie der Skarabaeiden zählt der Biologe mehr als 20.000 bislang beschriebene Arten. Die Skarabäen gehören zu dieser Großfamilie und unterscheiden sich durch die Art ihrer Aufzucht des Nachwuchses von anderen Skarabeiden.

Je intensiver die Sonne scheint, umso aktiver wird der Pillendreher. Er formt mit seinem scharfen, gezackten Vorderrand des Kopfes und den Vorderbeinen Dung zu Kugeln, die dann in sichere Entfernung transportiert und in die Erde vergraben wird. Im heißen Klima Ägyptens bleibt der Dung unterirdisch länger feucht, so daß die zweifache Funktion dieser Kugeln gewährleistet ist: die der Fraßkugel und die der Brutpille, die der Larvenzucht dient.

Der griechische Historiker Plutarch zeichnet das Verständnis seiner Zeit bezüglich des merkwürdigen Treibens dieses Käfers nach: „Man nimmt an, daß diese Käferart nur aus männlichen Tieren besteht, die ihren Samen in das Material ablegen, den sie zu einer Kugel formen; diese rollen sie dann mit ihren Hinterfüßen dahin; indem sie damit den Lauf der Sonne nachahmen, die sich von Ost nach West bewegt, scheinen sie einer der Himmelsbahn entgegengesetzten Richtung zu folgen...“

Damit nähern wir uns der frühen ägyptischen Sichtweise des Pillendrehers an. Alte Schöpfungsmythen und der Sonnenkult geben dem Käfer eine bevorzugte Stellung, die noch durch gewisse Eigentümlichkeit der Hieroglyphenschrift verstärkt werden.

Am Anfang war das Wasser. Ein Hügel erhob sich aus den Wassern. Oben auf dem Hügel lag ein Ei. Gott Ammon entspringt dem Ei. Eine Nilgans, der große Schnatterer, schwimmt das Wasser hinunter, erschafft die Welt. Dieser Schöpfungsmythos kennt verschiedene Varianten. So zum Beispiel erwächst aus dem Urozean eine Lotusblume, der ein Skarabäus entsteigt, der sich wiederum in einen Knaben verwandelt, aus dessen Tränen, also aus den Tränen des Sonnengottes Re, die Menschen entstehen.

Heliopolis, die Stadt des Sonnengottes und phasenweise geistiges Zentrum von ganz Ägypten, wurde im 20.Jahrhundert vor Christus zu Ehren von Re gegründet. Heliopolis ist heute ein dem Touristen wohlbekannter Stadtteil Kairos — seine Flughafennähe macht ihn für viele Neuankömmlinge zur ersten Station in Ägypten. Hier gab es schon immer den lokalen Gott Chepre, dessen Symbol der Skarabäus ist. Chepre wird in der Tradition von Heliopolis zu einer Erscheinung des androgynen und durch sich selbst entstandenen Urgottes und Weltschöpfers Atum, der wiederum als eine Manifestation des mächtigsten Gottes Re verstanden wird. Der Skarabäus bleibt das Symbol des Atum, des Sonnengottes, der täglich in der Sonnenbarke über den Himmel fährt und sich dabei im Laufe des Tages vom jungen Mann am Morgen bis zum abendlichen Greis verändert. In der Nacht, im Westen, im Totenreich erneuert er sich und erscheint morgens verwandelt wieder als kraftstrotzender Jüngling, der häufig als Skarabäus dargestellt wird. Die Verwandlung in einen Käfer bedeutet also Regeneration, Verjüngung, Schutz und neues Leben. Einige Aspekte des Kafkaschen Käfers lassen grüßen.

Legen es so manche Eigenschaften des Pillendrehers nahe, ihn als göttliches Sonnentier anzusehen — gesteigerte Aktivität bei Sonnenschein, die Dungkugel als Sonnenkugel, die die Voraussetzung für Leben ist und die ihm in der Antike zugeschriebene Selbstbefruchtung —, so gibt es über die materielle Analogie zwischen Käfer und Gottessymbolik hinaus noch einen weiteren Faktor, der zur Vergeistigung des Skarabäus führte. Der Käfer ist Bestandteil der Hieroglyphenschrift. Cheprer war die altägyptische Bezeichnung für diese Käfersorte. Das Verb cheper bedeutete „sein, entstehen“ oder „werden“. Diese abstrahierenden Inhalte von cheper wurden des Gleichklangs mit Cheprer wegen in Form eines Skarabäus dargestellt. So wurde diesem Käfer auch in Form einer Hieroglyphe, die für Verwandlung, Erneuerung und Selbstschöpfung steht, massenhafte Verbreitung zugesichert.

Er läuft und läuft und läuft...

Daß Heiliges und Profanes nicht immer getrennt sind, läßt sich am Beispiel der Pillendreherfigürchen gut nachvollziehen. Einerseits werden dem heiligen Käfer Denkmäler wie in Karnak gesetzt, andererseits sind die Skarabäenfiguren schon früh ein Gebrauchsgegenstand. Sie werden als Siegel in Form von tiergestaltigen Stempeln oder von Siegelringen und Kettenanhängern verwendet, denn die stets flache Unterseite des Skarabäus trägt immer eine Inschrift, ein Muster, eine Geheimschrift oder Abbildungen von Gottheiten und Königen. Anhand dieser Inschriften läßt sich häufig der Eigentümer und der Verwendungszweck der steinernen Insekten feststellen. Legion sind in pharaonischen Zeiten die Siegelskarabäen unzähliger Beamte, die vermutlich auch als Visitenkarten und als kleine Gastgeschenke fungierten.

Er läuft und läuft und läuft und läuft — über Karnak, Gablonz, Wolfsburg schwingt er sich mittels der Egypt Air in die Lüfte hoch. Diese Fortsetzung des Mythos ist konsequent. Der Skarabäus galt den alten Ägyptern als Vogel. Der Kairoer Flughafen steht bei Heliopolis, dem einstigen Zentrum des Skarabäussymbols.