ÄGYPTEN - EIN GESCHENK DES NILS

■ Eine kurze Geschichte des Flusses, aus dem Ägypten bis heute fast seinen gesamten Wasserbedarf deckt

Eine kurze Geschichte des Flusses, aus dem Ägypten bis heute fast seinen gesamten Wasserbedarf deckt

VONIVESALÜBBEN

Am Anfang war das Wasser NUN, bis eines Tages am Horizont ein kleiner Hügel auftauchte, auf dem der Sonnengott RE thronte. RE schuf den Gott der Erde GEB und die Himmelsgöttin NUT. NUT beugte sich über GEB. Und von jenem Tage an pflegte der Schöpfer und Sonnengott RE in seiner goldenen Himmelsbarke jeden Morgen im Osten die Schenkel der NUT zum Himmel hochzugleiten, um als Greis am Abend an ihren ausgestreckten Armen im Westen wieder auf die Erde hinabzugleiten, um in der Unterwelt zu verschwinden, von wo er am nächsten Morgen, wieder zum Jüngling geworden, auferstand.

So erzählte man sich im alten Ägypten die Schöpfungsgeschichte. Der Zyklus des Tages, der Jahreszeiten und des menschlichen Lebens war unmittelbar verknüpft mit dem Ansteigen und Abflauen des Wasserspiegels des Nils.

Mit 6.825 Kilometer Länge ist der Nil der längste Fluß der Welt. Der gemächlich fließende Weiße Nil entspringt südwestlich des Victoria- Sees im Herzen Afrikas. In der sudanesischen Hauptstadt Khartum vereinigt er sich mit dem reißenden Strom des aus Äthiopien kommenden Blauen Nils, um sich dann in das Plateau der Sahara einzufressen. Erst im letzten Jahrhundert entdeckten die Engländer Speke und Baker seine Quellen. Die alten Ägypter vermuteten seine Quelle bei den Stromschnellen in Assuan, wo auch der Flußgott Hupi hausen sollte.

„Ägypten ist ein Geschenk des Nils“, schrieb der griechische Gelehrte Herodot, einer der ersten „Nil- Touristen“, im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in sein Tagebuch. Ägypten besteht fast ausschließlich aus Wüste, die in Nord- Süd-Richtung von einem grünen, mehr als tausend Kilometer langen, schmalen Streifen durchschnitten wird: dem Niltal, das an der breitesten Stelle 25, an seiner schmalsten Stelle einen Kilometer breit ist. Erst hinter Kairo teilt sich der Nil in die beiden Mündungsarme des Deltas, das sich einer Lotusblüte gleich bis zu einer Breite von 250 Kilometern gen Mittelmeer öffnet.

In dem schmalen Flußtal und im Delta, das nicht größer ist als Baden- Württemberg, leben 95 Prozent aller Ägypter — eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Bis heute bezieht Ägypten fast seinen gesamten Wasserverbrauch aus dem Nil. Nur 0,25 Prozent sind Regen- und 1 Prozent Grundwasser.

Schon zur Pharaonenzeit teilten die Ägypter das Jahr in drei Jahreszeiten ein: die Überschwemmungszeit von August bis Oktober, die Anbauzeit von November bis März und die Brachzeit von April bis Juli. Im Frühjahr begann das Nilwasser anzusteigen. Im August hatte es den Höchststand erreicht. Dann stand das ganze Tal unter Wasser, und die einzige Verbindung zwischen den Dörfern waren kleine Flußbarken. Die Bauern pflegten ihre Felder mit kleinen Dämmen einzufassen, um das Wasser wie in einem Bassin so lange wie möglich zu halten, damit sich der ausgetrocknete Boden vollsaugen und der fruchtbare Nilschlamm absetzen konnte, um den Boden zu düngen.

Dem Nil verdanken wir unseren Kalender. Durch den Vergleich der Wasserstandsveränderungen mit den Bewegungen der Sterne errechneten Astronomen an den Höfen der Pharaonen, daß das Jahr 365 Tage hat, die sie in 12 Monate zu je 30 Tagen einteilten. An den fünf übriggebliebenen Tagen wurden die Geburtstage der Götter gefeiert.

Aber der Nil war nicht immer nur Segen, sondern auch Fluch. Wenn das Hochwasser ausblieb, rafften Hungersnöte die Bevölkerung dahin. Und wenn der Wasserpegel zu hoch anstieg, riß die Flutwelle die Dörfer an den Ufern des Flusses mit sich.

Die Menschen versuchten der Situation durch die Dämme und Bewässerungsanlagen wie der Sakiya, einem von Ochsen angetriebenen Göpelwerk, den Nuriyas, durch die Strömung angetriebenen Wasserrädern, oder dem Schaduf, einer Art Schöpfheber, Herr zu werden.

Dieses ausgeklügelte Bewässerungssystem mußte unterhalten und verwaltet werden. Der Nil schuf so den Staat Ägypten. Schon zur Zeit der Pharaonen war Ägypten in Provinzen unterteilt. Jede Provinz entsprach einem bestimmten Abschnitt des Flusses und hatte neben ihrem eigenen Verwalter auch ihren Flußingenieur. Auch der Pharao hatte seinen Nil-Minister. Und ein riesiges Beamtenheer führte regelmäßig über den Wasserstand Buch, regelte die Wasserzuteilung und sorgte dafür, daß Getreidevorräte für drohende Hungerkatastrophen angelegt wurden. „Wir haben die älteste Bürokratie der Welt“, sagen die Ägypter bis heute.

Aber erst in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts begann die endgültige Domestizierung des Flusses. In zehn Jahren Arbeit wurde südlich von Assuan ein 3,5 Kilometer langer Damm gebaut, 111 Meter hoch und an seinem Sockel 1.000 Meter breit: der Sadd el-Ali, wie die Ägypter den Assuan-Staudamm nennen, der das Nilwasser bis weit in den Sudan hinein speichert. Statt der jährlichen Flut sind nun bis zu drei Ernten im Jahr möglich. Die durch den Wasserabfall betriebenen Großgeneratoren erlaubten die Elektrifizierung von mehr als 4.000 Dörfern und den Aufbau einer eigenen Aluminiumindustrie. Und als in den achtziger Jahren jahrelang die Regenfälle am Oberlauf des Nils ausblieben und die meisten afrikanischen Länder von einer Hungerkatastrophe heimgesucht wurden, blieb Ägypten von den apokalyptischen „sieben mageren Jahren“ verschont.

Bis heute ist allerdings umstritten, ob die Vor- oder die Nachteile des Staudamms überwiegen. 100.000 Nubier, die am Oberlauf des Nils siedelten, verloren ihre Heimat und mußten nach Kom Ombo, nördlich von Assuan, umgesiedelt werden. Der ausbleibende Nilschlamm machte den Einsatz von Kunstdünger notwendig. Und in Folge der Dauerbewässerung droht der Boden zu versalzen. Der ansteigende Wasserspiegel nagt an den Fundamenten von Brücken, Wehren und historischen Gebäuden. Industrieabwässer, die ungeklärt in den Fluß geleitet werden, tun ihr übriges.

Früher reinigte die Flut die Felder von Flugsand und Ungeziefer. Heute drohen 8 Prozent der Felder zu versanden. Ratten- und Insektenplagen greifen um sich, und die gefährliche Würmerkrankheit Bilharziose nimmt zu.

In Zukunft werden die Ägypter sparsamer mit dem Wasser umgehen müssen. Aufgrund eines Abkommens mit dem Sudan dürfen sie pro Jahr 55 Milliarden Kubikmeter Wasser aus dem Assuan-Staudamm entnehmen. Nach Schätzungen von Experten wird der Wasserverbrauch jedoch bis zum Jahre 2000 auf 58 Milliarden Kubikmeter ansteigen. Schon jetzt versucht man durch Einsatz von Sprinkleranlagen bei der Bewässerung der Felder den Wasserverbrauch zu reduzieren und unterirdische Wasserlagerstätten in der Wüste zu lokalisieren. Große Hoffnung setzt man auf ein geplantes Gemeinschaftsprojekt mit dem Sudan, den Jongley-Kanal, der den Oberlauf des Nils an den Sudd-Sümpfen vorbeiführen soll, in denen bislang zwei Drittel des Wassers des Weißen Nils ungenutzt versacken.