PREDIGTKRITIK
: Wunder treffen immer mitten ins Herz

■ Am 7.Sonntag nach Trinitatis in der evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz, die im Volksmund auch »das Kraftwerk Gottes« genannt wird

Der Evangeliumstext steht heute bei Johannes. Es ist die Geschichte der Speisung der Fünftausend. Fünf Gerstenbrote und zwei Fische verteilten die Jünger Jesu unter eine Menschenmenge, die gekommen war, den Prediger Jesus von Nazareth zu hören. Als er zu Ende gesprochen hatte, waren alle satt und zwölf Körbe voll Brotstückchen übrig. Ein Wunder!

»Alles leicht zu erklären«, pflegte mein Vater an dieser Stelle zu sagen. »Das waren doch alles Hirten und Feldarbeiter, die hatten sicher alle eine eiserne Ration in ihrem Gürteltäschchen. So aß dann jeder seinen eigenen Fisch. Und hinterher verkaufen die das dann als Wunder.«

Christen glauben eben gerne an Wunder, das lehrt die Bibel an vielen Stellen. Auch der Predigttext an diesem Sonntag hat ein Wunder zum Ausgangspunkt, nämlich die Auferstehung Jesu. Von ihr berichtet Petrus den Mitgliedern der Urgemeinde. Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz, berichtet Lukas in der Apostelgeschichte, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder? Petrus antwortete ihnen: Kehrt um, und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen.... Und die ersten Christen ließen sich taufen, blieben beständig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.

Das, so erklärt uns Pfarrer Heinz Hoffmann, an diesem Sonntag Gastprediger in der Kirche am Hohenzollernplatz, sind die vier Essentials des Gemeindelebens: Beständigkeit in der Lehre, Leben in der Gemeinschaft, Brechen des Brotes und die Festigkeit im Gebet. So beschreibt es Lukas für die Urgemeinde, und so soll es auch heute noch sein. Natürlich ist die Charakterfestigkeit der Urgemeinde eine idealisierte Gemeindesituation, das muß auch Pfarrer Hoffmann zugeben — eine Utopie, sozusagen. Am Ende war auch unter den ersten Christen nicht alles so christlich-sittlich! Wir wissen es nicht, und auch der Verfasser des Predigttextes konnte das nicht wirklich gewußt haben. Als Lukas die Apostelgeschichte schrieb, war Jesus schon hundert Jahre tot.

»Aber das ist auch alles gar nicht so wichtig«, weiß Pfarrer Hoffmann, an den anderen Sonntagen Pastor im Berliner Dom und dort Leiter des »Evangelischen Kunstdienstes«, das Wort Utopia komme schließlich aus dem Griechischen und bedeute entweder »kein Ort mehr« oder »noch kein Ort«. Irgendwo dazwischen findet also heute unser reales, alltägliches Gemeindeleben statt. Und jeden Tag aufs neue muß sich daher der Christ fragen, ob es mit den vier Essentials des Gemeindelebens noch seine Ordnung hat — gibt es Beständigkeit in der Lehre, ein inniges Gemeindeleben, das Brechen des Brotes und das gemeinsame Gebet?

Ja, vor der Wende habe sich das im Osten auch so manch ein Kirchgänger immer wieder fragen müssen, denn im scharfen Gegenwind eines atheistischen Staates wurde auch das DDR-Kirchenleben häufig genug idealisiert. Nicht nur, daß die viel beschworene Herzlichkeit zwischen den Kirchenmauern den evangelischen Gemeinden in den letzten zwei vereinigten Jahren plötzlich abhanden gekommen ist, auch die »aufsehenerregenden Gebete im aufregenden Jahr 1989« mußten ja in die vielen kleinen, unscheinbaren, alltäglichen Gebetsseufzer der vergangenen Jahre eingebettet sein.

Inzwischen ist das alles deutsch- deutsche Geschichte. Und so steht die evangelische Kirche jetzt irgendwo zwischen der Utopie der Urkirche und vor der Gemeinde der Zukunft. »Wer will, daß die Kirche bleibt, wie sie ist, darf nicht wollen, daß sie bleibt, wie sie ist«, mogelt Pfarrer Hoffmann einen Satz Erich Frieds für sich um und erinnert daran, daß auch in der DDR das »Zurückgehen zur Quelle« der einzige Weg nach vorne und zu Gott war.

Auch in diesen Tagen müssen wir, wollen wir den Vorbildern der Urkirche folgen, zurück zu den Quellen. Und das geht ja bekanntlich nur, indem man gegen den Strom schwimmt — also immer wieder unermüdlich neue Utopien entwickelt. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte, schreibt Lukas über die vorbildliche Urgemeinde. Das sind doch »eindeutig kommunistische Tendenzen!« erkennt der Ex-Ostler Hoffmann aus langjähriger Erfahrung und verrät uns seine neue, Gegen-den Strom-Schwimm-Utopie: »Wo wir zusammenkommen auch mit den aufrechten Sozialisten und Kommunisten«, predigt er von der Kanzel, »da kann für uns eine Zukunft sein!« Das hat schon fast den unvergleichlichen Duktus des Martin Luther und ist mithin keine leichte Aufgabe, zugegeben. Aber Sportsfreunde! Was die Urchristen konnten, können wir doch schon lange, oder? Einen kleinen Vorsprung hatten die ersten Christen allerdings gegenüber denen, die heute im Gottesdienst sitzen und es gerne den Urchristen gleich täten: Damals geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel, verrät Lukas in der Apostelgeschichte, und das erklärt ja so manches! Würde Pfarrer Hoffmann nach dem Gottesdienst zum Beispiel uns alle mit einem kleinen Baguettebrötchen satt machen können, oder mit einer Flasche Trollinger unseren Durst nachhaltig löschen können, wäre das dann ja schon ein Anlaß, wieder eifriger an grenzübergreifende Utopien und die Aussöhnung mit den Kommunisten zu glauben. Da könnte dann selbst mein skeptischer Vater nichts mehr einwenden. Denn Hirten mit Gürteltäschchen habe ich an diesem Sonntag keine gesehen. Klaudia Brunst