Der graue Panther und sein großer Sprung

Linford Christies später Thriumph: Der britische Oldie (32) im Feld, der seit 15 Jahren vergeblich gegen die Dominanz der US-Sprinter anläuft, gewinnt nach dem Rennen über 100 Meter auch das Duell der Machos — mit einem Deo-Roller  ■ Aus Barcelona Michaela Schießl

Jubeln nach einem 100-Meter-Lauf ist seit Seoul strengstens verboten. Frühestens, so die Order, darf geklatscht werden nach 24 Stunden, wenn die Ergebnisse der Dopingtests bekannt sind. Doch als der Brite Linford Christie nach 9,96 Sekunden als Sieger durchs Ziel lief, warfen die 64.000 Zuschauer im Olympiastation von Barcelona alle Warnungen in den Wind. Sie schrien, tobten und feierten den Mann, der die großmäuligen US-Sprinter geschlagen hat. Keinem gönnt man den Sieg so wie dem 32jährigen Renn-Opa im Feld, der sich in der Vergangenheit so schwer tat mit großen Siegen.

„Heute gab es weder Carl noch Ben. Das war mein Tag“, sagte Linford Christie, und genoß den Erfolg in vollen Zügen. Eine halbe Stunde dauerte sein Thriumphzug durch die Katakomben des Stadions, immer wieder wurde er vor Kameras und Mikrofone gezerrt. Endlich am Ankleideplatz angekommen, traf er auf den abgeschlagenen Fünften Leroy Burrell (10,10). Kein Blick, keine Gratulation, der Amerikaner vom elitären Santa Monica Track and Field Club zeigte in der Niederlage weniger Größe als sein Kumpel Carl Lewis, der sich nicht für die 100 Meter qualifizieren konnte.

Auch Dennis Mitchell (USA), in 10,04 immerhin Dritter, zog es vor, in einer Menschentraube unterzutauchen. Also begann Linford Christie, die ungezogenen Kollegen zu ärgern. Mit scheint's unendlicher Geduld zog er sich an, schmierte sich seelenruhig Deo unter den Arm und stellte sich genüßlich den O-Tonjägern, die das Sperrgitter fast einzudrücken drohten und fortan keinen Blick mehr übrig hatten für die enttäuschten US-Amerikaner. Wütend zog Burrell, den Lewis mit einem „Bring it home“ aus dem Athletendorf geschickt hatte, ab und verweigerte jeden Autogrammwunsch. Der graue Panther Linford Christie grinste zufrieden, das Duell der Machos war gewonnen. Was machte es, daß Zuschauer Lewis maulte: „Es tut weh, wenn man weiß, man ist schneller.“

Seit über 15 Jahren ist der Liebling der Briten schon im rasenden Gewerbe tätig und hat das Einstecken gelernt. „Um dich zu sehen, kommen weniger Leute, als in eine Telefonzelle passen“, tobte einst sein Manager Andy Norman seinen Läufer an, der lieber auf dem Rasen fletzte und Domino spielte, als sich auf der Bahn zu quälen. Doch Christie ging in sich. Ein Jahr später, 1986, wurde er Hallen-Europameister über 200 Meter und Europameister über 100, was ihm 1990 in Split nochmals gelang. Doch bei Welttitelkämpfen oder Olympischen Spielen weilte der schnellste Europäer immer in der zweiten Reihe. Silber in Seoul hinter Carl Lewis, bei der Weltmeisterschaft 1991 in Tokio blieb für ihn nur Platz vier.

Schon länger nennt ihn sein Coach Rod Roddan „Pferd“. Die tiefe Logik: „Ein Pferd braucht kein Doping, das ist der Neid der Verlierer.“ In Seoul nämlich war auch Christie aufgefallen: Nur weil die in seinem Test gefundenen Steroid-Mengen so klein waren, glaubte man ihm, nur Ginseng-Tee getrunken und Nasenspray benutzt zu haben.

Seit Samstag ist Andy Norman bester Laune. Mit Linford Christie kann man nun Stadien füllen. Mit einem Gesichtsausdruck, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, rannte der gebürtige Jamaicaner der Konkurrenz auf und davon. „Ich dachte nur daran, so schnell wie möglich vom Start zum Ziel zu kommen“, erklärte der 1,89 lange Lulatsch seine recht simple Taktik. Schwierig sei nur, die Beine in Schwung zu kriegen. „Sie sind sehr lang, es dauert seine Zeit, sie zu bewegen.“

Diesmal jedoch gehorchten die Laufwerkzeuge. Vom Start an vorn, zog er nach siebzig Metern nochmals an, und alle, die dachten, der gesamte 100-Meter-Lauf sei ein Sprint, durften staunen: „Linford begann nach 70 Metern einen Schritt vor mir zu spurten, das konnte ich nicht mehr einholen“, schilderte der glückliche Zweitplazierte, Frank Fredericks aus Namibia (10,02), den Rennverlauf. Er war der einzige Konkurrent, der dem Sieger ausgiebig gratulierte. Dennis Mitchell hingegen zog einen Flunsch: „Wir werden noch zeigen, daß die USA die besten Läufer haben“, tönte er trotzig. Sein Land sei nämlich verrückt nach Medaillen. Und er selbst auch: „Am Start fühle ich mich wie eine Kugel, die durch einen Gewehrlauf rast“, verkündete der favorisierte Rohrkrepierer. Und erhält prompt die Quittung vom feixenden Christie: „Der Geist ist immer bereit, solang die Füße tragen.“