Ewiger Kampf mit den Wohnungsgenossen

Der Pluralismus verbessert die Überlebensbedingungen der Geradeflügler  ■ Aus Moskau Klaus Helge Donath

Von Anfang an gehörten sie dazu. Morgens begrüßten sie mich fühlerschwingend von der Bettkante aus. Beim Frühstück lugten sie unter dem Teller hervor. Schlug ich die Zeitung auf, hatten sie sich bereits ein Plätzchen zwischen den Seiten gesucht. Treue Weggefährten, mit denen ich zu Beginn der Moskauer Zeit jeden Zentimeter der acht Quadratmeter Küchenbehausung nutzen mußte. Damals konnte ich keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie nutzen es schablos aus. Sie erhoben Anspruch auf mein Kopfkissen, selbst auf der Toilette wahrten sie den Anstand nicht. Das war zuviel des Guten. Ich mußte etwas gegen die Usurpatoren unternehmen. Doch was? Wie gesagt, die Fähigkeit, sie zu zerdrücken, hatte ich damals noch nicht erworben. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn sie rückten in Myriaden an. Und autoritären Rufen zur Ordnung, diesem ersten Gebot bei der Anwesenheit von Schmarotzern, parierten sie überhaupt nicht. Die Mangelgesellschaft muß bei der russischen Ausführung der blatta orientalis, der Kakerlake, erhebliche Mutationen in der Bedürfnisstruktur bewirkt haben.

Vom äußeren Schein lassen sie sich nicht mehr trügen. Sie überzeugen durch anspruchslose Hartnäckigkeit. Zu holen gibt es selbst am armseligsten Ort noch etwas. Gerade las ich in der Iswestija, daß eine besonders wendige darkan operativ aus dem Gehörgang einer Frau entfernt werden mußte. Sie war bei der Arbeit eingeschlafen. An ihrem Arbeitsplatz gab es anscheinend nichts zu holen außer dem Ohrenschmalz einer Angestellten. Das Gegrummel der kauenden Mundwerkzeuge in ihrem Ohr soll sie an den Rand des Wahnsinns getrieben haben.

Also, meine Erkundungen bei ortserprobten Kollegen ergaben zweierlei: Ein effektives russisches Insektizid gibt es nicht. Schließlich mußte ein Präparat importiert werden. Wir verfielen auf Kakerlaken-Fallen der Marke „Maxforce“. Sie erwiesen sich als außerordentlich wirkungsvoll. Nach drei Tagen waren sämtliche Allesfresser der Heimtücke dieser Wunderwaffe zum Opfer gefallen. „Maxforce“ demonstrierte erneut eindrucksvoll die Überlegenheit des Westens. Warum Überlegenheit? Diese Fallen mit zwei Öffnungen und labyrinthartigen Gängen lösen gleichzeitig das Problem der Entsorgung. Mit dem Tod wird man nicht konfrontiert.

Als die Kakerlaken im letzten Herbst, der sich in Moskau schon Ende August ankündigt, wieder häusliche Wärme suchten, und das sauteure „Maxforce“ nicht zur Stelle war, mußte ich auf ein sowjetisches Präparat zurückgreifen. Doch es war aussichtslos. Die Viecher erwiesen sich als extrem resistent. Den Frontalangriff mit der Sprühdose überstanden die meisten. Zwar waren sie benommen, torkelten dann aber schließlich doch weiter. Dafür hinterließ das russische Präparat in Sekundenschnelle seine Wirkung bei mir — stechender Kopfschmerz und Übelkeit. Die Tierchen hingegen zogen weiterhin in Geschwadern über die Küchendecke und bevölkerten das Kühlschrankaggregat. Im Badezimmer nisteten sie in den bröckelnden Kacheln, vor dem Duschen mußte man sie erst ertränken. Dann der grauenvolle Höhepunkt: Aus der Telefonmuschel saust mir ein Vieh mit seinen ledernen Deckflügeln entgegen. Schluß — Aus. Glücklicherweise traf „Biokill“ mit der Post ein, in ansprechender Flasche mit wiederverwendbarem Zerstäuber. Ebenfalls effektiv, hat es einen Nachteil: Der Tod bleibt kein Tabu, jeden Morgen muß man ihn schaufelweise beseitigen. Und der ist eklig, denn das Mittel treibt die Viecher auf, daß ihr Panzer birst und ihr weißes Inneres herausquillt. Doch auf den Menschen soll es keine schädlichen Langzeitwirkungen haben.

Früher bekämpften die Russen die Schädlinge kollektiv. Am Wochenende, bevor man auf die Datscha fuhr. Das ist jetzt vorbei. Jeder kämpft gegen jeden und vertreibt die Parasiten, wann es ihm paßt. Das erweist sich nicht nur der mangelnden Ressourcen wegen als volkswirtschaftlich unklug. Es sichert vielmehr stetige Präsenz der Schmarotzer. Gerade hat man den chemischen Angriff hinter sich, kriechen Vertriebene der nächsten Etage aus dem Luftschacht. Als Lena neulich unerwartet früh auftauchte und mich beim Angriff erwischte, blieb sie völlig kalt. „Die größten Kakerlaken gibt es in New York“, entfuhr es ihr. Aber es war tröstlich gemeint. „Bisher war bei euch doch immer alles am größten.“