Abgesang auf eine einmalige Institution

Die Aufhebung der italienischen „Scala mobile“ und der Rücktritt des Gewerkschaftsvorsitzenden Bruno Trentin markieren faktisch das Ende der einst mächtigsten Arbeiterbewegung Europas  ■ Aus Rom Werner Raith

Die ruhmlose Abschaffung der jahrzehntelang in aller Welt beneideten Einrichtung kam nicht überraschend. Still und leise sollte nach Vorstellung der neuen italienischen Regierung die „Scala mobile“ beseitigt werden, die automatische Lohnanpassung an die Inflationsrate. Doch die Explosion, die während der Grablegung erfolgte, war ganz und gar nicht vorgesehen.

Regierungschef Giuliano Amato wollte mit der Auflösung der 1956 für Industriearbeiter geschaffenen und 1969 auf die übrigen Bereiche übertragenen Einrichtung beenden, was sein Parteichef Bettino Craxi als Ministerpräsident 1983-87 bereits begonnen hatte, aber nur zu einem Teil hatte durchsetzen können. Craxi hatte die Anpassung lediglich um 25, dann um 50 Prozent reduziert — gerade so viel, um ein von der oppositionellen kommunistischen Partei und den Gewerkschaften angestrengtes Referendum gegen eine Antastung ins Leere laufen zu lassen.

In der Nacht zum Freitag nun kamen die Verhandlungspartner — Gewerkschafter, Minister und Arbeitgeber — scheinbar zufrieden aus dem Verhandlungsmarathon. Als Ausgleich, so versprach Amato, werde es einen Preisstopp, der die Inflationsrate bei 3,5 Prozent einfrieren soll (derzeit rund 6 Prozent) sowie eine Lohnerhöhung von 20.000 Lire (rund 26 DM) geben. Die Gewerkschaftsbosse versicherten, daß man mit dem Kompromiß leben könne, zumal die Sicherheit des Lebensstandards durch die Preisstabilität nun endlich gefestigt werde.

Nur einer wollte sich nicht an der allgemeinen Euphorie beteiligen: Bruno Trentin, Vorsitzender der größten Gewerkschaft Confederazione generale italiena del lavoro (CGIL). Er trage das Verhandlungsergebnis mit, ließ er verlauten, doch zumindest engeren Vertrauten schwante nichts Gutes, sahen sie doch, daß der Chef seine sonst ständig qualmende Pfeife stundenlang nicht mehr nachstopfte. Am Samstagmittag ging dann der Knaller los: Trentin legte sein Amt nieder. Er habe den Regierungskompromiß passieren lassen, um die Gewerkschaften nicht wieder in den Geruch des Defaitismus zu bringen, erklärte Trentin, aber nun reiche es ihm. Die Arbeiterbewegung habe nicht mehr die Kraft, die Interessen ihrer Mitglieder in der Öffentlichkeit verständlich zu machen und durchzusetzen. Mit anderen Worten: die Arbeiterbewegung ist tot.

Mit dem 66jährigen Trentin geht nicht nur ein Stück „movimento operaio“, sondern der letzte charismatische Vertreter jener Verbindung von Intellekt und Industriearbeit, wie sie Italiens Arbeiterbewegung jahrzehntelang immer wieder hervorgebracht und in Führungspositionen gehievt hatte. Der Sohn eines nach Frankreich emigrierten Faschismus- Gegners, als Halbwüchsiger bereits im Partisaneneinsatz, studierte mit Promotionsabschluß Jurisprudenz, wurde noch in der Zeit der Massenaufmärsche roter Fahnen zum geschworenen Gegner aller Slogans und hielt so auch immer großen Abstand zur CGIL-nahen Kommunistischen Partei. Intellektuell auf der linken Seite der PCI angesiedelt, übernahm er die Gewerkschaft erst, als sich der Rechtsausleger Luciano Lama pensionshalber verabschiedet und dessen Nachfolger, ein reiner Apparatschik namens Pizzinato, durch ständige Mißerfolge wegblamiert hatte. Bereits in seinen ersten Reden als neuer Gewerkschaftschef kündigte Trentin das eherne Band zwischen Parteien und Arbeiterverbänden, löste den bis dahin von den Parteichefs der Kommunisten und Sozialisten ausgemauschelten Proporz im CGIL-Vorstand auf und demokratisierte die Arbeiterbewegung so radikal, daß nach Jahren des kontinuierlichen Mitgliederverlustes auch endlich wieder jüngere Leute beitraten.

Doch Trentins Anstrengungen kamen offenkundig zu spät. Die wirtschaftliche und strukturelle Krise in Italien, der Zerfall linker Ideologien, die Wirren im europäischen Umbau haben der Arbeiterbewegung nicht nur die ökonomischen Parolen einer größeren Beteiligung am Reichtum geraubt. Auch die politische Identität im Kampf gegen Krieg und Diskriminierung oder für einen sozialistischen Umbau der Gesellschaft ging verloren. Wo sich die Arbeiter und Angestellten noch bemerkbar machen, geschah dies nicht mehr im Rahmen der drei gewerkschaftlichen Großorganisationen — neben der CGIL die Sozialisten-nahe UIL und die katholische CGIL —, sondern in sogenannten „Basiskomitees“ im Dienstleistungssektor. Diese hatten, wie es die Fluglotsen, Lokführer oder Computerspezialisten der Banken vormachten, die Macht ihrer technologischen Bedeutung erkannt und durch spontane Ausstände ganze Sektoren lahmlegen können.

Für die Regierung wiegt der Verlust Trentins mehr, als sie bei den Arbeitgebern durch die Abschaffung der „Scala mobile“ hereinholen kann: Der Gewerkschaftsboß war einer der letzten Arbeiterführer, auf den auch die Nichtmitglieder hörten und der die „Comitati di base“ beruhigen konnte. Arbeitgeberpräsident Abate hat die Regierung denn auch unverzüglich aufgefordert, notfalls mit Nachverhandlungen Trentin noch umzustimmen. Zweifellos ein einmaliger Vorgang, daß die Industriellen für einen, noch dazu linken Arbeiterführer in die Bütt springen.