Marsmensch mit Hammer und Sichel

Der weißrussische Turner Vitali Scherbo steigt mit sechs Goldmedaillen zum Star der Olympischen Spiele von Barcelona auf/ Andreas Wecker, der von großen Sprüchen auf große Taten umgesattelt hat, holt drei Einzelmedaillen  ■ Aus Barcelona Michaela Schießl

Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen: Wie die berühmten drei Affen saßen die großen Sieger der Gerätefinals in der mitternächtlichen Pressekonferenz. Chef-Dominator Vitali Scherbo, der sich nach dem Mannschafts- und Mehrkampfsieg noch viermal Gold an den Einzelgeräten abholte, machte auf taub. Verschlossen kauerte er hinter dem Podium, nagte Fingernägel. Der falschherum aufgesetzte Kopfhörer verstärkte den Eindruck des Außerirdischen: Mit den Drähten auf dem Kopf ging er glatt als Marsmensch durch.

„Wie der turnt, das ist wie von einem andern Stern“, war denn auch der allgemeine Tenor. „Er turnte jenseits von Gut und Böse“, sagte Ex-Weltmeister Eberhard Gienger. An Seitpferd, Ringen, Sprung und Barren war er nicht zu bezwingen, nur am Boden leistete er sich einen kleinen Fehler, für das Reck hatte er sich nicht qualifiziert. Auf der Brust trug der Minsker Scherbo immer noch das alte UdSSR-Emblem mit Hammer und Sichel: „als Talisman“. Einen Wechsel ins Ausland schloß der 20jährige aus: „Natürlich würde ich mein Gold gern in den USA versilbern, aber turnen werde ich immer für Weißrußland.“

Neben ihm auf dem Podium saß sein sprachloser Landsmann Grigori Misutin. Mit hängenden Schultern und dem steinerweichenden Blick einer deprimierten Meerkatze hing der dreifache Sibermedaillengewinner in seinem Stuhl. Kaum mehr als ein Flüstern kam über seine Lippen: „Ich bin furchtbar enttäuscht. Ich wollte nichts als Gold.“

Der dritte im Bunde war blind ob der Freude: Das Gesicht in die Hände vergraben, gab sich der Amerikaner Trent Dimas seinem unfaßbaren Glück hin. Mit einer faszinierenden Reck-Übung hatte er als vorletzter Starter sensationell Misutin und Andreas Wecker auf den gemeinsamen zweiten Platz verwiesen. Während sich die beiden Silbernen gegenseitig bemitleideten, besprang Dimas ein ums andere Mal seinen Trainer, der sich freute, als ob er selber gewonnen hätte. Erst zur Siegerehrung gelang es freiwilligen Helfern, die beiden zu trennen.

Andreas Wecker, für seine Temperamentsausbrüche bekannt, nahm das knapp entronnene Gold an seinem Paradegerät verhältnismäßig gelassen auf. „Als zweiter Turner hatte ich keine Chance, da kommen zuviel nach. Der Eberhard hat schon getan, was er konnte.“ Gemeint war Gienger, der in der Wertungsjury saß und bei Wecker tüchtig zulangte. Ein Lobbyismus, wie er im Turnen üblich ist. „Die Russen haben halt immer noch eine große Lobby“, kommentierte Wecker das überlegene Abschneiden von Vitali Scherbo emotionslos. „Das geht schon in Ordnung. Die hatte ich früher als DDR-Turner auch.“

Wahrhaftig hatte Wecker wenig Grund zum Ärgern. Fünfmal durfte er wie eine Lorenzsche Graugans hinter der Olympiafahne her zu den Finals schreiten, dreimal kehrte er mit Medaillen zurück: Silber am Reck, Bronze am Seitpferd und an den Ringen. Doch sein Heim-Trainer Lutz Landgraf warnt: „Mit Silber und Bronze gibt der sich nicht zufrieden. Das nächste mal will er Gold.“ Landgraf kennt sich aus in der entschlossenen und leicht erregbaren Psyche seines 1,63 kleinen Akrobaten. In regelmäßigen Abständen streiten die beiden Sturköpfe bis aufs Blut. Noch in diesem Jahr hatten sie sich wütend getrennt und geschworen, nichts mehr voneinander wissen zu wollen. Zwei Tage später kam die große Reue, das Paar raufte sich wieder zusammen.

„Alle erfolgreichen Athleten sind kompliziert. Es ist für keinen Menschen unproblematisch, wenn er an seine Leistungsgrenzen geht“, erklärt Landgraf die heftigen Schwankungen im Temperament Weckers. Den Vogel schoß der Berliner 1991 bei der Weltmeisterschaft in Indianapolis ab. Dort bezichtigte er die Kampfrichter öffentlich des hinterhältigen Betrugs, nannte den damaligen Cheftrainer Milbradt einen Säufer und sagte seinen Urlaub in Skandinavien ab, weil ein skandinavischer Wertungsrichter ihn betrogen habe. Kurz: Er riß die kleine Klappe auf bis zum Anschlag. Dummerweise turnte er gleichzeitig schlecht und erhielt die Quittung: Großes Maul + schlechte Leistung = miese Presse. „Ich bin jetzt vorsichtiger geworden mit meinen Äußerungen“, sagt Wecker heute, erliegt dann aber doch der Versuchung, den großen Mann zu markieren: „Ich hab schon zwei Cheftrainer abgeschossen. Beim dritten Mal bin ich dran.“ Kenner der Szene sagen hingegen, daß der Initiator in Wahrheit Sylvio Kroll war, der Wecker lediglich als Sprachrohr zum Absägen Milbradts benutzt hat.

„Wecker hat gemerkt, daß er schlecht angekommen ist in Indianapolis“, kommentiert Landgraf die Wandlung Weckers zu moderateren Tönen. „Er läßt sich nun wieder mehr sagen.“ 1989, kurz nach der Wende, stellten die gedrillten DDR- Turner die Befehlsgewalt der Trainer heftig in Frage. „Wecker wollte nicht mehr so hart trainieren. Aber das muß man eben, um oben zu sein.“ Es dauerte seine Zeit, bis sich Wecker an die neuen Verhältnisse ohne große Privilegien gewöhnen konnte. Seine einzige Einkommensquelle ist die Sporthilfe, ein Sponsor hat sich für den wortgewaltigen Turner bisher nicht gefunden. So will Wecker im September eine Banklehre beginnen. Seine Karriere als Anlageberater ist im Ansatz gescheitert. Es fehlte wohl am diplomatischen Geschick.