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■ Die taz-Sommerserie, Teil14, spielt auf Hiddensee: Da, wo die DDR nie angekommen ist

Drei Fähren fuhren früher pro Tag nach Hiddensee, und auf die letzte kam nur, wer einen Übernachtungsbon vorzeigen konnte. Inzwischen legen täglich 14 Fähren an: Tagesgäste sind ein notwendiges Übel. „Ham wa nich'“, heißt es lapidar im Buchladen „Koralle“. In der Kneipe bringt die Kellnerin nach einer kleinen Ewigkeit das falsche Bier, nebenan ist Ruhetag, trotz Hochsaison. Vor dem häßlichsten Gebäude der Insel, der Kaufhalle in Vitte, wehen die verblichenen Fahnen des „Konsum“.

Hiddensee könnte das letzte Refugium der DDR sein, wenn sie jemals hier angekommen wäre. Und auch seit der Wende ist nicht viel passiert: ein paar Häuser, ein paar neue Gaststätten. „Nischt hat sich geändert“, sagt der Fahrrad- Verleiher, der auf seine MIFA- Räder aus der Vorwendezeit stolz ist. Auf der Gemeinde säßen noch dieselben wie früher, der Bürgermeister, ein West-Import, „eiere auch nur rum“. Berta Witt in der Siedlung „8.Mai“ in Kloster vermietet nach wie vor Zimmer. Früher bekam sie Geld und Gäste vom FDGB, jetzt muß sie sich selber um Kundschaft kümmern. Das Gästebuch aus anderen Tagen gibt es noch, einige Stammgäste haben die Staatsangehörigkeit gewechselt, statt DDR jetzt BRD. Westler schreiben in dieser Spalte „deutsch“. Der beliebteste Beruf bei Frau Witts Gästen ist Vorruheständler. Das Bett kostet bei ihr 13 Mark die Nacht, andere nehmen schon 20. Zuviel Geld für eine Clique aus Potsdam, die am Hafen von Kloster Postkarten schreibt. Wenn es Nacht wird, ziehen sie wie alle, die mit dem Schlafsack auf dem Rücken ankommen, an den letzten Winkel vom Strand und hoffen, daß sie der Naturschutzwart nicht findet, obwohl der schon Verständnis für sie habe. Morgens räumen sie ihre Schlafstätte wieder auf. „Ich erinnere mich an bessere Zeiten“, sagt Johnny, der schon als Kind hier Urlaub gemacht hat: „Alles ist teurer geworden, überall bunte Schilder. Aber wenn du mal so einen Sonnenuntergang hier mitgekriegt hast, dann wird das 'n Stück auch deine Insel.“ Trotzdem sei es nicht mehr das ganz große Gefühl der Freiheit wie früher.

Die Szene trifft sich abends im „Gasthaus zum Enddorn“, ganz am Ende der Insel. Dietmar, der Schauspieler aus Berlin und alter Insel-Stammgast, schüttelt bedächtig den Kopf: „Die Prominenz kommt nicht mehr. Früher hab ich alle zwei Meter einen Bekannten getroffen, jetzt sind die Kneipen leer. Damals brauchte man mindestens einen Nationalpreis, um hier ein Hotelzimmer zu kriegen.“ Im Garten der Kneipe steht der Safe der Vitter Sparkasse: Er wurde geknackt, obwohl er mit einem Deckchen und einer Topfpflanze drauf getarnt war. Beute: über 200.000 DM, von den Tätern keine Spur. Die Sparkasse hat einen Shuttle-Service für Geschäftsleute eingerichtet. Sie werden samt Geld zu Hause abgeholt. Für fünf Millionen Mark ist gerade ein altes Schloß, das vorher die Humboldt- Uni nutzte, verkauft worden. In der Kirche spricht Alt-Bischof Forck zum Thema „Kirche in der Wende“, und der Bürgermeister verzweifelt, weil das System hier nicht funktioniert. Hat es noch nie. Lutz Ehrlich

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