VILLAGE VOICE
: Selbstbefruchtung in himmlischen Sphären

■ »Auferstanden aus Ruinen« — der Sampler des Tresor-Labels

Der Klang der Familie...«, raunt es vertraulich im ersten Takt der Compilation: Das Label des bekanntesten Techno-Clubs vor Ort, Tresor- Records, hat jetzt zusammen mit Mute Records sein Stammbuch veröffentlicht. Wäre der Sampler, der einen Überlick über die hiesige Discjockey-Szene geben soll, wie ursprünglich geplant, bereits im Januar erschienen, hätte er wohl noch puren Techno präsentiert. Doch wie in jeder ordentlichen Familie gab es jene zermürbende Art von Knatsch, über die niemand reden möchte. Nach der halbjährigen Verzögerung taucht das Wort »Techno« im Titel wohlweislich gar nicht erst auf: Mit dem Abstand zum Hardcore-Taumel des letzten Jahres zeigt die Zusammenstellung von Erstveröffentlichungen und Remixes, ohne alle Zweige des Stammbaus zu berücksichtigen, was in Berlin möglich war und ist.

Die Anordnung hält sich locker an die Chronologie. Nach dem verheißungsvollen Anfangsgemurmel ertönt der Psychothrill, den 3 Phase mit Dr. Motte erstellt haben, dem Gründer der Love- Parade und Pionier des Acid-Jazz. Über einem hektischen Rhythmus wechseln sich nicht minder hektisch zerlegte Quinten mit imitiertem Hi-Hat und falschen Geigen ab, die rastlos die gleiche Tonfolge wiederholen und Beklemmungen hervorrufen. Noch tiefer ins Unbewußte steigen danach System 01. Johnny Klimek und Paul Browse vertreten die Vorliebe des Clans für die Bewußtseinsforschung. Mit dem hypnotischen Klang von »Drugs Work« knüpfen sie an »Any Reality is an Opinion — From Psychedelics to Cybernatics« an — ihr Sampling eines Vortrags von Timothy Leary. An dritter Stelle steht Tanith. Sein »Return and Revenge of the Gatorade« klingt, als ob sich Heerscharen außerirdischer Wesen bewaffnet hätten und der DJ den Krieg der Sterne auf einem Monitor verfolgte: jeder Schuß ein Pieps.

Mit Tanith als Vertreter der harten Linie ist die Ouvertüre dann beendet, das Hirn der Hörenden genügend stimuliert für die Beiträge von Cosmic Baby, Maurizio, Jonzon, VOOV und Thomas Fehlmann (von dessen Titel Underground Resistance einen Remix machten). Acht Stücke als tönende Endlosschleife, die dem Gefühl vom Verlust der Zeit während der Nächte in den Clubs entspricht.

Das Label versteht seine Veröffentlichung jedoch gerade als ein Stück Zeitgeschichte. »Auferstanden aus Ruinen« hat es sie genannt, weil die Familie in den leerstehenden Hallen und Häusern Ost-Berlins zu Ruhm gekommen ist. Heftig wird damit am Mythos vom Musik-Mekka Berlin gebastelt, der lange genug nichts hergegeben hatte, und im Eifer entsteht schnell der Eindruck, der ganze Ruinenzauber sei ohne internationale Beteiligung entstanden — als rein deutsche Angelegenheit.

Ohnehin kommt der Sampler nicht ohne Didaktik aus. »Don't Panic«, weisen Mindgear die Hörer im vorletzten Stück an. Mijk van Dijk, der im Winter auf den Brain-Parties mit Ambiente zum gefragten Discjockey avancierte, läßt die vagen Ängste, die das erste Stück hervorgerufen hat, in Wohlgefallen verschwinden, in himmlischen Sphärenklängen voll heiterem Zirpen und Zwitschern. Keinen Zweifel will dieser Track lassen, daß es auch nach Techno weitergeht. Unendlich ließe sich weiter mischen. Und tatsächlich: Wenn anno 88 Acid-Jazz das Aspirin nach dem House-Kater war, so plant das Mutterhaus Tresor jetzt Tanzabende mit der Verquickung von House und High Energy. Die Familie pflanzt sich fort. Claudia Wahjudi

Tresor Records/ Nova Mute/ Intercord, CD: INT 875.800, Doppel-EP: INT 175.800