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Verliebte Feuerwehrmänner

Rosas, Galotta, Nadj und andere: Der zeitgenössische Tanz war stärker repräsentiert als üblich. Ein Abschlußbericht aus Avignon  ■ Von Jürgen Berger

Seit einigen Jahren wird sie mit ihren Choreographien in die ganze Welt eingeladen. Und die Preise fallen ihr zu, wie sie es selbst wohl nie für möglich gehalten hatte. Trotzdem hat sich Anne Teresa de Keersmaeker erst kürzlich mit ihrer Tanztruppe „Rosas“ fest an die Brüsseler Oper gebunden. Deren bisheriger Intendant Gérard Mortier, der inzwischen Bewegung in die Salzburger Festspiele bringt, war es auch, der sie auf Mozarts Konzertarien aufmerksam machte. Es sind Liebesschmerzgesänge, die ausschließlich um dieses eine Thema kreisen: die Liebe, die unglücklich macht.

Liebesschmerz kann auch etwas Komisches haben — für die anderen. Einige Tänzerinnen kommen heulend und zornig schreiend auf die Bühne. Die Erlösung liegt im Tanz. Ein kurzer Blickkontakt genügt, und die Greinende fügt sich in eine Formation ein, in der Anne Teresa de Keersmaeker alle Variationen der Liebespassion durchspielt: kindhaftes Haschmich wechselt mit Ohnmachtsanfällen oder Gruppenformationen, bei denen die Tänzerinnen sich fächerförmig gruppieren und die Tänzer zum Bild des eindringenden Pfeils werden. Wenn die Rhythmik etwas Hüpfendes hat, wird das mit kleinen Bewegungen der Beine oder des Oberkörpers nachvollzogen und pflanzt sich wie eine Welle zwischen den Tänzerinnen und Tänzern fort. Dabei nimmt de Keersmaeker den Trennungsschmerz der Liebenden ernst — er zieht sich als Leitmotiv durch die Arien. Im Tanz werden immer wieder jähe Bewegungen als Zeichen für den Riß gefunden.

Die Choreographie zeigt aber auch liebevoll-ironisch, daß trotz akutem Liebesschmerz sofort mit einem anderen koketten Liebesspiel begonnen werden kann. Ein zentrales Thema aus Mozarts „Cosi fan tutte“, das Anne Teresa de Keersmaeker für ihre „Concert Arias“ verwendet. Bei den Frauen liegen Schmerz und Flirt eng beieinander, während die Männer eher über ihr Imponiergehabe die abwesende Geliebte zu vergessen suchen. Und auch das wird unvermittelt eingefügt: Zwei Tänzer kommen an die Rampe, beginnen zu hüpfen und bewegen sich in der Luft, als wollten sie einen unsichtbaren Nebenbuhler mit Karateschlägen erledigen.

Jeder und jede bewegt sich auf schwankendem Boden, und während der Tänzer seiner Partnerin im gestörten Pas de deux keine Chance läßt, trägt ein anderer eine Sängerin herein — eine der drei, die die Mozart-Arien im Papstpalast singen. Anne Teresa de Keersmaeker hat die Sängerinnen in ihre Choreographie integriert, sie flirten heftig mit, und die Interpretin Janet Williams tanzt singend sogar in einer Formation mit, während der Dirigent Phillipe Herreweghe den Irritierten spielt.

Don Juan 2000

Anne Teresa de Keersmaeker stellte ihre „Mozart Concert Arias“ in Avignon zum ersten Mal vor, danach geht es zur Weltausstellung nach Sevilla. Vor der Premiere war die flämische Choreographin von Ängsten geplagt, und als sie zum Applaus auf die Bühne kam, hatte man immer noch den Eindruck, es sei ein Spießrutenlaufen für sie. Anders Jean- Claude Galotta, der einige Tage zuvor mit selbstbewußter Miene zum Schlußapplaus antrat. Er ist Chef des Nationalen Choreographischen Zentrums in Grenoble und einer der Wegbereiter des zeitgenössischen französischen Tanzes. Auch er wird mit seiner „Legende des Don Juan“ zur Weltausstellung nach Sevilla reisen und hinterher gar Brasilien, Kanada und Amerika mit Pascal Gravat beglücken. So heißt sein Don mit bürgerlichem Namen, der, wenn er sich nicht gerade auf eine Tanzbühne verirrt, Rocksänger in einer gewissen „Local Group“ ist. „Die Legende des Don Juan“ scheint einem Blackout Galottas zum Opfer gefallen zu sein, bei dem choreographische Dürftigkeit zum Gesamtkunstwerk und thematische Ideenlosigkeit zur Juan-Version 2000 stilisiert werden. Pascal Gravat gibt raunende Texte von sich und läßt zusammen mit zwei Gitarristen derart die Mauern des Papstpalastes erbeben, daß man die Restauratoren versteht, die am liebsten alle Veranstaltungen im Ehrenhof untersagen würden.

Ein Leitungswechsel steht an

Gegen Ende des Festivals war auch Alain Crombecque immer häufiger in den Abendvorstellungen zu sehen. Seit acht Jahren ist er Festivaldirektor, jetzt nimmt er Abschied und leitet künftig das Pariser „Festival d'Automne“. Aus dem Theaterfestival in Avignon hat er ein die Grenzen sprengendes Ereignis gemacht, eine seiner wichtigsten Akzentsetzungen lag in der Präsentation des zeitgenössischen Tanzes. Zum Ende seiner Amtszeit beschenkte er sich selbst und lud gleich zehn Tanzensembles ein, so viele wie noch nie. Neben den beiden Präsentationen im Papstpalast gab es „Außergewöhnliche Begegnungen“ mit den jungen Choreographinnen und Choreographen, die Crombecque in den letzten Jahren vorstellte.

Daniel Larrieu gehört dazu, seine Choreographien haben Verwandtschaft mit Anne Teresa de Keersmaekers Tanz. Auch er modelliert die Bewegung wie ein Bildhauer, legt aber auch noch mehr Gewicht auf die Freilegung von Feinstrukturen und ziseliert aus kleinsten Bewegungen ganze Tanzabläufe. Er ist längst kein Geheimtip mehr, er kam nach Avignon mit einer Zusammenfassung seiner bisherigen Arbeit, einem ansehnlichen „Katalog eines Tanzrepertoires“ (so der Untertitel seiner „Coda“). Larrieu arbeitet als Choreograph am Nationalen Choreographischen Zentrum von Angers, bei der Arbeit mit seinen Tanzschülern kommen Choreographien in konzentrierter Spannung wie „Der Elefant und die Kirschkälber“ oder minimalistische Bewegungsübungen heraus, in denen Larrieu lediglich Bewegung und verstreichende Zeit konfrontiert. Einflüsse von William Forsythe sind unübersehbar.

Nicht zur Reihe der „Außergewöhnlichen Begegnungen“ zählte der Ungar Josef Nadj, obwohl sein Tanztheater tatsächlich außergewöhnlich ist. In Ungarn begann er im Sprechtheater, 1980 ging er nach Paris und stellte sieben Jahre später seine erste Tanzarbeit vor. Heute ist er Choreograph am Tanzzentrum von Orléans, und man horcht in der Tanzszene auf, wenn sein Name fällt. Seine Choreographie „Die Leitern des Orpheus“ hat etwas von der anarchistischen Welt der Marx Brothers; Stevan Kovac Tickmayers maßgeschneiderte Komposition klingt nach einer Kreuzung aus Chaplin und Weill. Eine wild gewordene Feuerwehrmannschaft feiert ihren Ball. Nadj treibt seine Tänzerinnen und Tänzer in ein furioses Spiel mit den Objekten. Slapstick mit Leitern, melancholisch verliebte Feuerwehrmänner, die in Gummizügen auf einer schiefen Ebene hängen und zur Geliebten hin- und wegschnellen. Kaum ein größerer Unterschied ist denkbar als zwischen Larrieus sublimen Choreographien und Nadjs anarchischem Treiben — Frankreichs Tanzwelt ist derzeit breit gefächert, so breit, daß selbstverliebte Spielereien wie die des Choreographen- und Tänzerpaares Joelle Bouvier/Régis Obadia zu verkraften sind.

Das Festival ist vorbei, und auch in die Auseinandersetzung um die soziale Absicherung freier Theaterkünstler ist Ruhe eingekehrt (s. nebenstehenden Kasten). Die abschließende Pressekonferenz des Festivals wurde hauptsächlich von Bernard Faivre d'Acier, dem neuen Chef in Avignon, bestritten. „BFA“, wie er in Frankreich genannt wird, übernimmt einen unbeweglichen Festivalkoloß, der der Stadt schwer im Magen liegt. In periodischen Abständen werden Klagegesänge angestimmt, die Pariser Equipe binde die Stadt nicht genügend ein, während die Festivalleiter über mangelnde Unterstützung von seiten der Kommune klagen. BFA weiß, was ihn erwartet, er war von 1981 bis 1984 schon einmal Festivaldirektor in Avignon. Einen ersten Schritt der Annäherung hat er bereits getan und die Gründung eines Nationalen Theaterzentrums in Avignon sowie einer dem Festival assoziierten Produktionsgesellschaft verkündet. Vom Festival mitproduzierte Inszenierungen sollen wieder in die Stadt zurückgeholt werden, damit es dort nicht nur im Juli nur um eines geht — das Theater im und um das Theater.

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