Lange Beratung in Karlsruhe

■ Knappe drei Stunden verhandelten gestern Karlsruhes Richter öffentlich über das neue Abtreibungsrecht/ Politische Prominenz vertrat die gegensätzlichen Standpunkte

Karlsruhe (taz) — Die sprichwörtliche badische Schlitzohrigkeit des Vorsitzenden der Unionsfraktion im deutschen Bundestag, Wolfgang Schäuble, ist in Bonn längst als feste Größe bekannt. Doch gestern, vor den roten Roben der Karlsruher Verfassungsrichter, legte der Mann noch eins drauf. Als Vertreter von 247 Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU war Schäuble nach Karlsruhe gekommen, um, gewissermaßen in letzter Minute, dem jüngst beschlossenen Abtreibungsgesetz mittels einer einstweiligen Anordnung einen Riegel vorzuschieben. Gewiß, so Schäuble, habe er „Hochachtung vor der Gewissensentscheidung“ der Bundestagsabgeordneten, die am 25. Juni das Gesetz zur Neufassung des §218 mehrheitlich und fraktionsübergreifend beschlossen hatten. Daß er hier stehe, dürfe nicht als „Mangel an Respekt vor Mehrheiten“ gewertet werden. Drei Stunden nur mußte in Karlsruhe verhandelt werden, die Beratungszeit der Obersten Richter jedoch zog sich bis nach Redaktionsschluß hinaus.

Die Verfahrensbevollmächtigten der Bonner Abtreibungsgegner Peter Lerche und Fritz Ossenbühl hatten gegenüber Schäuble weniger Schwierigkeiten bei der Begründung ihres juristischen Eiertanzes. Gefahr, fürchtete etwa Professor Lerche, sei im Verzug. Schließlich gelte es, die drohende „Tötung ungeborenen Lebens“ zu verhindern. Eine „Verbeugung vor dem Zeitgeist“ sei die Gesetzesreform, ein Versuch, das „Rechtsempfinden der Frauen herabzusetzen und zu entwürdigen“. Schon der Unrechtszustand der ehemaligen DDR habe schließlich „genug Wunden geschlagen“. Sein Kollege Fritz Ossenbühl wurde noch deutlicher. Das Reformwerk, das Straffreiheit für einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb von drei Monaten vorsieht, wenn sich eine schwangere Frau beraten läßt, ist für den Strafrechtler ein eklatanter Verstoß gegen das Grundrecht auf die Unversehrtheit des Lebens. Jetzt müsse verhindert werden, daß bis zum endgültigen Erfolg einer Verfassungsklage „verfassungswidrige Abbrüche möglich sind“, um „irreparable Rechtsgüterverletzungen zu vermeiden“. Die sozialpolitischen Maßnahmen, wie die Verpflichtung der Bundesländer und Gemeinden das Recht auf einen Kindergartenplatz sicherzustellen, greift nach seiner Ansicht zu spät. Außerdem, so zitierte er den baden-württembergischen Rechtsaußen und Finanzminister Mayer-Vorfelder, sei das Sozialpaket selbst für ein Land wie das reiche Baden-Württemberg entschieden zu teuer. Es müsse der Eindruck vermieden werden, als „sei ein Schwangerschaftsabbruch etwas wie ein Gang zum Arzt, um eine Krankheit zu behandeln“, oder gar ein „legitimes Mittel der Familienplanung“.

Noch schlimmere Gefahren sah die bayerische Landesregierung, die sich der Verfassungsklage der Bonner CSU/CDU-Fraktion angeschlossen hatte, heraufziehen. Die Fristenlösung, so ihr Rechtsbeistand gestern in Karlsruhe, „gefährde das Leben des Ungeborenen“, und schaffe einen „unfaßbaren Druck auf dessen Eltern“, ob sie nun einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen sollen oder nicht. Völlig ungeklärt sei noch die künftige Gesetzeslage für Krankenhäuser und ihre Verträge mit Chefärzten und Fachärzten für Gynäkologie.

Daß durch die Reform des §218, wie von den Abtreibungsgegnern befürchtet, eine Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen entstehen könnte, bestritten die Vertreter der Bundestagsmehrheit vehement. In dem Reformwerk, so ihre Interpretation, gehe es schließlich vor allem um einen besseren Lebensschutz. Nach Ansicht des Bonner Verfassungsrechtlers Erhard Denninger hat gerade die bisherige Strafbarkeit einer Schwangerschaftsunterbrechung zu einer hohen Dunkelziffer im statistischen Datenmaterial über die Anzahl solcher Abbrüche geführt. Für völlig abwegig hielt der Verfassungsrechtler die Unterstellung der Verfassungsklage, der Bundestag habe ein offensichtlich verfassungswidriges Gesetz beschlossen. Das, so Denninger, muß sich der Bundestag nicht gefallen lassen.

Eine fast absurde Situation entsteht nach Ansicht der Reformbefürworter, sollte die Klage auf einstweilige Anordnung bei den Verfassungsrichtern Erfolg haben, in einer künftigen Rechtsspaltung zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Im Einigungsvertrag zwischen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR ist festgeschrieben, daß die uneingeschränkte Fristenlösung als bisheriges DDR- Recht solange aufrechterhalten bleibt, bis ein neues Bundesgesetz in Kraft tritt. Sollte ein solches Bundesgesetz jetzt an einer Verfassungsklage scheitern, so bleibe auch in den neuen Bundesländern alles wie bisher. Ein Zustand, so Professor Denninger, den vor allem die Abtreibungsgegner im Bundestag bisher als besonders verfassungswidrig bezeichnet hatten. Nach Ansicht des Strafrechtlers Winfried Hassmer liegt der Schwerpunkt des neuen Abtreibungsgesetzes ohnehin mehr auf dem Bereich der Hilfen für Schwangere. Man habe sich bewußt für die „Freiheit und gegen die Strafandrohung entschieden“. Dietrich Willier