»Dann gehen wir nach Hamburg«

Bosnische Flüchtlinge flüchten wegen Neonazi-Überfällen aus Mecklenburg / Lauenburger  ■ Pastoren verweigern Aufnahme

Der Spießrutenlauf von 116 bosnischen Kriegsflüchtlingen aus Bahlen (Mecklenburg-Vorpommern) dauert an: Die Gruppe, die am Sonntag nach Überfällen von Neonazis aus der Unterkunft bei Boizenburg in die ehemalige Grenzstation nahe Lauenburg geflüchtet waren, hatten gestern auf einem Rasen vor dem Lauenburger Gemeindezentrum erschöpft Schutz gesucht. Zuvor war der Treck trotz Warnungen der Kieler SPD-Landesregierung nach Schleswig-Holstein gezogen. Obwohl die Flüchtlinge gegen 18 Uhr in das Grenzhaus zurückkehrten, sind die Fronten weiter verhärtet. „Wir gehen nicht zurück in den Osten, zurück zu den Nazis.“

Der Rückkehr waren aufregende Stunden vorangegangen. Um kurz nach acht Uhr setzt sich zunächst der Zug der überwiegend aus Frauen und Kindern bestehenden Gruppe in Richtung Lauenburg in Bewegung. „Letzte Nacht waren wieder sieben Wagen mit Neonazis da,“ berichtet ein Bosnier. Nur weil zufällig eine Polizeistreife vorbeigefahren sei, wären die Neonazis geflüchtet. Die ganze Nacht haben die Männer daraufhin vor der Station Wache geschoben, denn sie haben immer noch die schrecklichen Szenen der vergangenen Wochen in Erinnerung. Zehn Mal waren sie in ihrer Unterkunft Bahlen (Kreis Hagenow) von Neonazis und rechtsradikalen Skins mit Messern und Brandsätzen angeriffen worden: Ein Bosnier zur taz: „Wir fühlten uns da wie Hunde in einem Käfig.“ Die Situation sei unerträglich gewesen. „Für uns Männer sind Nazis kein Problem, aber unsere Frauen und Kinder haben Angst.“

Pastor Thomas Vogel zeigt bei der Ankunft des Flüchtlingstrecks vor dem Gemeindezentrum zwar Verständnis, dennoch hat er wenig Ambitionen, sich gegen die Politikervorgaben stark zu machen. Vogel: „Die Kirche ist kein rechtsfreier Raum. Es gibt nur eine Lösung — zurück nach Mecklenburg- Vorpommern.“ Doch das lehnen die Bosnier kategorisch ab: „Wenn Sie uns keinen Schutz geben, werden wir zu Fuß nach Hamburg gehen.“

Lange dauert die erregte Diskussion, während einige Frauen erschöpft auf der Wiese einschlafen. Vogel verweist auf Gefahren in Lauenburg: „Bei den letzten Wahlen hatten wir hier 14 Prozent Rechtsradikale.“ Deshalb schäme er sich, Deutscher zu sein. „Schleswig-Holstein ist nicht der Himmel, Mecklenburg nicht die Hölle — Der Westen ist kein Paradies.“

Die Bosnier lassen sich nicht überzeugen, fühlen sich in Lauenburg trotzdem sicherer, drohen notfalls mit Hungerstreik: „Wir sind keine Wirtschaftsflüchtlinge. Wir wollen nur in Demokratie leben, bis in unserer Heimat wiederFrieden ist. Unsere Frauen gehen nicht zurück nach Ostdeutschland.“ Wir werden lieber hier sterben, dann können Sie unsere Leichen 'rüberschicken!“ Enttäu-

1schung dann über die deutsche Humanität: „Wenn Sie uns keine Lösung anbieten, dann geben Sie uns unsere Papiere und schicken uns wieder nach Bosnien zurück — dann können wir wenigsten an der Front kämpfen.“

Gegen Mittag erklären sich die PastorInnen zumindest zur Vermittlung bereit. Es erscheint Bürgermeister Manfred Sauer. Unter dem Klicken und Surren der Kame-

1ras stellen sich Vogel und Sauer demonstrativ mit einem Kind im Arm in Pose, als habe es keine Kontroverse gegeben. In dieser Phase wird erstmals die Tür zu den sanitären Anlagen der Kirchenräume geöffnet, provisorische Wikkeltische aufgestellt, ein krankes Kind zum Arzt gefahren. Danach ist wieder Härte angesagt. „Keine Aufnahme.“ Über dpa fordert das Kieler Sozialministerium die Pastoren

1auf, die Wiese polizeilich räumen zu lassen. Am Abend dann erneut ein Kompromiß. Nach der polizeilichen Zusage, die Ex-Grenzstation zu bewachen, kehren die Flüchtlinge in einem Stadtbus in den Backsteinbau zurück. Polizei, Politiker und Pastoren hoffen,die Flüchtlinge heute doch noch von einer Unterbringung in andere Mecklenburger Unterkünfte überzeugen zu können. Kai von Appen