Utopien sind primitiv

■ Im Literarischen Colloquium Berlin wurde wieder diskutiert: »(K)ein Ort für Utopie?«

Der Anrufung zweiter Teil. Das Forschungsprojekt »Kommunikation zur Förderung der Friedensfähigkeit« an der HdK hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Literaten und ihre Texte auf Zukunftspotentiale hin abzuklopfen. Ratlos blickt man auf die Krise emanzipatorischen Denkens (nicht erst) nach dem vielzitierten Zusammenbruch des Sozialismus.

Nachdem in der vergangenen Woche mögliche Zulieferungen der Literatur an politische Zusammenhänge besprochen werden sollten, stand diese Woche der Begriff »Utopie« auf dem Programm des Literarischen Colloquiums in der schönen Wannseevilla. Entwirft die Literatur vor der Jahrtausendwende »Orte jenseits der real existierenden marktwirtschaftlichen Demokratien?« Oder ist heute ist heute nur noch Anti- Utopie denkbar? Zum Thema geladen der Ungar László Krasznahorkai, der Österreicher Norbert Loacker, für den erkrankten Wolfgang Hilbig aus Leipzig sprang Jan Koneffke ein — seit 1987 freier Autor in Berlin.

Urs Jaeggi als Moderator tat gut daran, die ideellen Vorgaben, den inneren Wärmegrad des Topos »Utopie« erstmal abzukühlen. Er selbst gehöre zwar einer Generation an, die intellektuell und literarisch mit der »Sinnfrage« (»was, für wen, wozu«) aufgewachsen sei — allerdings sei Literatur an bestimmte Utopiebegriffe »nicht unmittelbar gekoppelt«. Der Schriftsteller als »Bildermacher« inszeniere vielmehr die Bewegung des Atopischen schlechthin. In der Tat, wo ist der Schreiber, wenn er schreibt, der Leser, wenn er liest? Jaeggis moderate — und trotzdem alles andere als unwahre — Beschwichtigungsformel bewahrte die Veranstaltung gleich zu Anfang vor dem Abgleiten ins Peinliche. Denn die Texte, die dann gelesen wurden, hatten zum Thema einen allenfalls konstruierten Zusammenhang — oder eben den der literarischen Freiheit.

Einzig László Krasznahorkai vermochte dem Thema noch einmal etwas Wärme einzuhauchen. In einer Mischung aus Prosa und »Diskurs« sprach er von einem »Verlust der Lokalität«, sogar von »Heimatverlust«. Er führte dies aus in seiner Schilderung einer Divergenz zwischen tatsächlicher und geistiger Bewegung. Egal in welche Richtung man sich bewegt, die Wünsche reisen immer entgegengesetzt. Wäre die Utopie also etwas sehr Reales, die Erfahrung eines subjektiv empfundenen Spaltungsprozesses? In Krasznahorkais Erzählungen gibt es die Erfahrung kleiner Brüche, in denen die Ahnung von Zukünftigem und heutige Erfahrungsgehalte zusammentreffen.

Was Krasznahorkai als Erfahrung zu vermitteln suchte — er selbst bezeichnete sein Deutsch als gebrochen, es fehle ein Übersetzer — konnte im folgenden wieder auf seine postmoderne Formelhaftigkeit reduziert werden. Jan Koneffke sprach angesichts der medialen Durchsuppung der Wahrnehmung von »Flüchtigkeit der Realität«, die einen »Gewinn von Schwerkraft der Ästhetik« zur Folge habe. Das heißt: Die ästhetischen, fiktionalen und medialen Sphären gewinnen wieder an Realitätsmächtigkeit. Es geht alles durcheinander. Norbert Loacker las dann noch eine Passage aus einem eben entstehenden Roman — »Schwemmsand« — »da hält nichts und da kann man nichts drauf aufbauen«. Kein Ort.

Moderne Literatur beharrt auf ihrer Ort- wie Utopielosigkeit. Dem Nicht-Ort einen Ort auszumalen, das geht nicht, zumal der Weg dorthin gänzlich unbekannt ist. »Da sitzen wir also«, sagte Urs Jaeggi, und konstatierte eine gewisse Sprachlosigkeit. Und als dann aus dem Publikum die Forderung kam, Literatur hätte sich realistischer, näher am Alltag und an den »Themen, die auf der Straße liegen« zu orientieren, entgegnete Loacker, sinngemäß, daß er zu alt sei, um Hausaufgaben gestellt zu bekommen.

Wiederum war es Krasznahorkai, der mit zwei verstreut gesprochenen Sätzen die Problematik des Abends umfaßte. Das Nachlassen der »Utopieherstellung« habe nämlich mit einem »Nachlassen der Sehnsucht« zu tun. Das betreffe die Gesellschaftswissenschaften wie die Literatur, die sich beide in selbstreferentiellen Systemen ergehen. Aber, so der ungarische Autor: »Utopien sind primitiv.« Bernd Gammlin