Spielplatz der gigantischen Kuscheltiere

Die Wirbelsäule kracht, die Muskeln seufzen — Gewichtheben der Superschwergewichtler ist angesagt Oberfeldwebel Nerlinger landet auf dem Hosenboden, gewinnt Bronze und will weitermachen: „Heben ist mein Leben“  ■ Aus Barcelona Michaela Schießl

Der Mann aus Nigeria ist stocksauer. Alle Kraft hat er zusammengenommen, alle Muskeln zum Zerreißen gespannt, keinen Moment an seine leidende Wirbelsäule gedacht und hat das mörderische Gewicht hochgerissen, hauruck, bis ganz über den Kopf. Dort oben jedoch schienen sich auf eigentümliche Weise die Rollen zu vertauschen. Die 190 Kilo rissen den Gewichtheber fort. Zuerst ein paar Schritte nach vorne, dann seitlich nach links weg. Es war, als ob die Last den Körper dirigiert. Verzweifelt versuchte der Hüne, die selbständig gewordene Bürde zu bändigen. Schließlich, nach einer Ewigkeit, warf er sie zu Boden. Sein flehender Blick war vergebens. Einstimmig erklärte die Jury den Reiß- Versuch für ungültig: Nicht fixiert, lautete das Urteil. Heulend vor Enttäuschung verließ Aduche Ojadi die Bühne.

Zu allem Unglück begann das Publikum auch noch zu lachen. Nicht aus Mißgunst oder Schadenfreude — es fiel der modernen Fernsehtechnik zum Opfer. Denn was das bloße Auge als dramatischen Kampf mit den Kilos ausmachte, verkam auf der Großleinwand zum urkomischen Slapstick. Der massige Körper des Athleten verwandelte sich in der Superzeitlupe zu einem einzigen Wabbelpudding. Die angestrengten Muskeln zitterten und schlotterten nur so, der ganze Kerl ging völlig aus dem Leim. Das Lachen der Zuschauer muß ihn mehr geschmerzt haben als das schwere Eisen. Denn Gewichtheben ist nicht lächerlich. Es ist der Sport der starken Männer. Und ein starker Mann ist schließlich kein Objekt für Hohn und Spott.

In der Tat herrschte im „Pavell de l' Espanya Industrial“ zu Barcelona alles andere als eine Schaustellerathmosphäre. Kein „Hereinspaziert, hereinspaziert, hier sehen Sie Herkules, den Muskelmann“. Denn was die Superschwergewichtler ab 110 Kilogramm am Dienstag vor ausverkaufter Kulisse beim olympischen Zweikampf demonstrierten, ist viel mehr als Eisenstemmen. Technik und Taktik bestimmen den Wettkampf. Je drei Versuche hat jeder Teilnehmer im Reißen (Gewicht direkt hochziehen) und im Stoßen (Gewicht wird auf der Brust abgesetzt). Die Endpunktzahl besteht aus der Addition der besten Versuche. Klingt recht statistisch, doch Gewichtheben ist spannend.

Manfred Nerlinger zum Beispiel, der bayerische Oberfeldwebel mit der nahezu perfekten Umsetztechnik, pokerte hoch. „Ob Silber oder Bronze ist mir eigentlich egal, das habe ich schon in Seoul und Los Angeles geholt.“ Gold sollte es sein. Doch als sein Dauerrivale Alexander Kurlowitsch (GUS) schon nicht mehr zu schlagen war, ließ Nerlinger, im zweiten Versuch an 242,5 Kilo gescheitert, im dritten Stoß 245 Kilo auflegen: Die Silbermedaille lockte doch. Streitsüchtig trat der unfaßbar dicke Athlet ans Gerät, bückte sich (wobei erstmals seine Mitte definiert wurde) und begann, sich lange zu konzentrieren. Die Fußsohlen und Oberschenkelmuskel zuckten. Sie wußten, was auf sie zukommt.

Doch das Gewicht haute den Drei- Zentner-Mann buchstäblich um. Unförmig kugelte er hinten über, schlug die fetten Hände über dem fetten Kopf zusammen und saß da wie das Kind im Dreck. Aber nur ein wenig, denn mit insgesamt 412,5 gestemmten Kilo wurde der 1,81 Meter große Bayer immer noch Dritter. Ernesto Aguero aus Kuba hob zwar genauso schwer, bringt aber das Kunststück fertig, 13 Kilo mehr als Nerlinger zu wiegen. Sich soviel Eigengewicht anzufressen, ist in diesem Sport unerläßlich, um das Eisen ausbalancieren zu können. Nerlinger, so berichten Bewohner des olympischen Dorfes, ist unablässig auf der Jagd nach Eßbarem. Doch obgleich er vorgibt, sich nach Beendigung der Karriere vor allem aufs Abnehmen zu freuen, beschloß er, statt einer Diät doch lieber noch zwei Jahre weiterzuheben.

Dabei bekommt der bereits 31jährige mit dem 23jährigen frischgekürten Olympiasieger im Schwergewicht, Ronny Weller, ab sofort superschwere Konkurrenz im eigenen Lager. Und auch die Gussen scheinen, obgleich leichtgewichtiger, auf eigentümliche Weise immer stärker zu sein. Goldfinger Kurlowitsch (450 gehobene kg) war wegen Handels mit Dopingmitteln schon eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen worden. Sein Kumpel Leonid Taranenko holte Silber (425 kg). Doch trotz all der Doping-Probleme in seiner Sportart, trotz der vornehmen Zurückhaltung der Sponsoren und trotz des Images als Randsportart kann Nerlinger die Finger einfach nicht von der Hantel lassen. „Heben ist mein Leben“, schwärmt der Dicke. Und strahlt wie ein riesiges Kuscheltier.