Strafrecht geteilt, Sozialpaket gilt

■ Die rechtliche Lage in Deutschland nach dem Spruch der Verfassungsrichter

Bonn (dpa) — Nach der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gelten weiterhin unterschiedliche Strafvorschriften bei Abtreibungen in Deutschland. Die mit dem „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ in Bundestag und Bundesrat beschlossenen sozialen Maßnahmen sind unbeschadet des Karlsruher Spruchs jedoch am Mittwoch in Kraft getreten.

Für das Strafrecht gilt weiter:

In Westdeutschland

Die Indikationsregelung nach dem reformierten Paragraphen 218 von 1976. Abtreibungen sind in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft nur dann straffrei, wenn eine von vier Indikationen vorliegt. Dazu zählen schwerwiegende medizinische Gründe mit Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter, eine eugenische Indikation bei der Annahme, daß ein Kind schwer geschädigt zur Welt kommen würde, eine kriminologische Indikation, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Außerdem kann eine soziale Indikation nach einer Beratung von einem Arzt gestellt werden, wenn eine Notlage der Schwangeren so schwerwiegend ist, daß von der Frau die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann und die Situation auf eine andere zumutbare Weise nicht geändert werden kann.

In Ostdeutschland

Die Fristenregelung, die 1972 von der DDR-Regierung beschlossen worden war. Der Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen bleibt allein der Entscheidung der Frau überlassen. Diese Bestimmung entspricht der alten Regelung in Westdeutschland, die 1975 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde, noch bevor sie in Kraft treten konnte.

Sozialpaket

Folgende Regelungen traten am Mittwoch einheitlich für Ost und Westdeutschland in Kraft.

—Die Arbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird verstärkt.

—Jeder hat das Recht, sich in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft berührenden Fragen von einer dafür vorgesehenen Beratungsstelle oder von einem Arzt umfassend beraten zu lassen.

—Die zuständige oberste Landesbehörde muß ein ausreichendes Angebot wohnortnaher Beratungsstellen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung sichern. Auch freie Träger müssen gefördert werden.

—Die Länder tragen dafür Sorge, daß für je 40.000 Einwohner mindestens ein Berater vollzeitbeschäftigt zur Verfügung steht.

—Gesetzlich Krankenversicherte bis zum 21. Geburtstag sollen verordnete Empfängsnisverhütungsmittel kostenlos erhalten.

—Kinder von drei Jahren an bis zum Schuleintritt sollen ab 1.Januar 1996 einen Rechtsanspruch auf Besuch eines Kindergartens haben. Für jüngere Kinder und Kinder im schulpflichtigen Alter sind nach Bedarf Plätze in Tageseinrichtungen vorzuhalten.

—Durch Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes wird Arbeitslosen, die wegen Kinderbetreuung an einer Umschulungsmaßnahme mit ganztägigem Unterricht nicht teilnehmen können, ein Unterhaltsgeld gewährt werden. Die Übernahme von Kinderbetreuungskosten bei Umschulungsmaßnahmen wird von 60 auf 120 Mark angehoben. Einarbeitungszuschüsse nach Zeiten der Kindererziehung werden Pflicht.

—Frauen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, bekommen ab dritten Schwangerschaftsmonat einen doppelt so hohen Mehrbedarfszuschlag. Bei Familien wird der Mehrbedarf um 20Prozent aufgestockt. Der Sozialhilfeträger darf die Eltern einer Hilfeempfängerin, die schwanger ist oder ihr leibliches Kind bis zu dessen sechstem Lebensjahres betreut, nicht mehr zum Regreß heranziehen.

—Bei der öffentlichen Wohnungsvergabe sind schwangere Wohnungssuchende vorrangig zu berücksichtigen.