Das Naturschutzgebiet Chacocente ist militärisch besetzt

■ Schildkröten in Nicaragua

Schildkröten in Nicaragua

Managua (taz) — Während die Polizei in Managua fast täglich gegen protestierende Studenten eingesetzt wird, muß die Armee sich um das Überleben der Paslama-Schildkröte kümmern. Das Naturschutzgebiet Chacocente am nicaraguanischen Pazifikstrand ist militärisch besetzt, seit vor ein paar Tagen 4.000 Händler das Areal stürmten und die Nester von etwa 2.000 Meeresschildkröten plünderten.

Nach Schätzungen des Umweltschutzinstitutes IRENA konnten sich die Plünderer mit einer Viertelmillion frisch gelegter Eier davonmachen. Parkwächter, die sich ihnen in den Weg stellen wollten, wurden erbarmungslos niedergerannt. Widerstand war zwecklos und lebensgefährlich: Vor zwei Jahren hatten die Eierräuber einen vom IRENA angestellten Wärter zu Tode geprügelt.

Die schlabbrigen, pingpongballgroßen Schildkröteneier sind eine Delikatesse, die in Nicaragua, mit Chili gewürzt, als Appetizer geschätzt wird. Allerdings herrscht vom 1. Juli bis 31. Januar strenge Schonzeit, denn während der zweiten Jahreshälfte kommen die Paslama- und Tora-Schildkröten massenhaft an den Strand, um ihre Eier abzulegen. In ganz Amerika gibt es nur fünf Massennistplätze; zwei davon liegen in Nicaragua. Deswegen machte sich die sandinistische Regierung um das Überleben der Spezies verdient, als sie vor zehn Jahren die 800 Meter Strand von Chacocente und die umliegenden 4.200 Hektar Land zum Naturreservat erklärte. Allerdings fehlen dem IRENA die Mittel, das Gebiet effektiv zu überwachen. „Das Problem sind nicht die hungrigen Bauern aus der Umgebung, die täglich 200 Eier für den Eigenkonsum abschleppen“, erklärt ein Mitarbeiter des Umweltinstituts. Gefährlich sind die Großhändler, die aus anderen Landesteilen anreisen, um die Nester im großen Stil zu plündern. Der größte Teil der von ihnen vermarkteten Ware landet gar nicht auf den Tischen der Restaurants sondern in Shampoo-Fabriken im benachbarten El Salvador.

Die Soldaten, die gegen den Schildkrötengenozid zu Hilfe gerufen wurden, müssen jede Nacht den Ansturm von nicht weniger als 200 Händlern abwehren, die in das Reservat eindringen. Dabei ist es schon wiederholt zu Zusammenstößen gekommen. Die Tora-Schildkröte mußte in Nicaragua bereits zur bedrohten Art erklärt werden. Denn von hundert Schildkrötenbabys, die ausschlüpfen, erreichen schon ohne Zutun des Menschen nur drei das Erwachsenenalter. Die restlichen werden auf dem kurzen Weg ins Meer von Vögeln gefressen oder im zarten Alter von ihren natürlichen Feinden im Wasser verzehrt.

An die Pazifikstrände Nicaraguas kommen jährlich 28.000 der behäbigen Reptile, die geschätzte fünf Millionen Eier ablegen. Aber von Jahr zu Jahr werden es weniger. Ralf Leonhard