Milde Strafen im Bluterprozeß

HIV-infizierte Opfer der verseuchten Bluttransfusionen in Frankreich sind entsetzt/ Lediglich ein Angeklagter mit Freiheitsstrafe bedroht/ Die politisch Verantwortlichen werden verschont  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„L'horreur“, sagt Joelle Bouchet unablässig. Horror, Abscheu, Schrecken, Ekel — all das liegt in dem Wort, daß diese Frau früher nie ausgesprochen hat. Die Mutter des aidsinfizierten, 16 Jahre jungen Bluters Ludovic und die anderen Nebenkläger im Prozeß gegen vier Verantwortliche für Aids infizierte Bluttransfusionen in Frankreich finden nicht die Worte, die das ausdrücken können, was sie empfinden. Die Angehörigen von dreißig Blutern, von denen einige bereits an Aids gestorben sind, sind empört über den Verlauf des Prozesses, der am Mittwoch nach über sechs Wochen zu Ende ging. Das Urteil wird am 23. Oktober verkündet.

Die Staatsanwältin hatte in ihrer Anklagerede betont, daß sich der ehemalige Chef des Nationalen Zentrums für Bluttransfusion (CNTS), der Arzt Michel Garretta, und sein damaliger Forschungsleiter Jean- Pierre Allain „wie die schlimmsten Krämer verhalten haben. Sie haben ihre verseuchten Vorräte verramscht und die Hämophilen wie Kunden betrachtet.“

Dennoch soll einzig Garretta für vier Jahre ins Gefängnis und 150.000 Mark Strafe zahlen. Weil er „allein die Macht“ über die Bluttransfusion in Frankreich „ausübte, muß er sie auch allein verantworten“, erklärte die Anklägerin. Garretta habe „manipuliert und gelogen“ und alles seinem persönlichen Ehrgeiz untergeordnet. Nachdem er 30 Millionen Mark in eine Fabrik zur Industrialisierung der Blutverarbeitung gesteckt hatte, habe er seine riesigen Vorräte an verseuchten Konserven bis 1985 um jeden Preis verkaufen wollen.

Für die drei anderen Angeklagten verlangte die Staatsanwältin lediglich Bewährungsstrafen — die Opfer der Bluttransfusion traf dies wie eine Ohrfeige. Für ihr Schweigen und Nichtstun sollen Allain und der damalige Chef der Gesundheitsbehörde, Professor Jacques Roux, vier Jahre und der frühere Chef des Nationalen Gesundheitslabors, Robert Netter, zwei Jahre auf Bewährung erhalten. Vor allem der Fall Allain schmerzt die Hämophilen. Denn der Arzt und Forscher hatte die Gefahr sogar nach Ansicht der Staatsanwältin schon 1983 „besser als jeder andere“ erkannt. Damals begann er Forschungen, zu deren Zweck er einige Bluter mit erhitztem, sicheren Plasma, andere mit den unbehandelten Konserven versorgte.

Die Verteidiger forderten Freispruch für alle vier Angeklagten, die in ihren Augen nur Sündenböcke abgeben. In zwei Punkten waren sie sich mit den Nebenklägern einig: Sie verurteilten, daß die damals verantwortlichen Politiker — Gesundheitsminister Herve und Sozialministerin Dufoix — nicht zur Verantwortung gezogen wurden. „Die Staatsgewalt hat erlaubt, daß dieser Prozeß stattfindet. Aber nur unter der Bedingung, daß sie selbst dabei nicht erscheint“, sagte Garrettas Anwalt und verwies auf eine Reihe von Dokumenten, die offenbar beiseite geschafft wurden. „Es ist ein zurechtgeschnittener und verfälschter Prozeß, in dem man uns anlügt, der Prozeß einer feigen Gesellschaft, die flieht.“

Entsetzt hat die Nebenkläger auch, daß die Staatsanwältin ihre Klage auf „Vergiftung“ mit den Worten „es handelt sich nicht um ein Verbrechen“ abgewiesen hat. Obwohl die Angeklagten die Gefahr der HIV-infizierten Blutderivate von 1983 an gekannt und nichts zum Schutz der Bluter unternommen hatten (die Präparate wurden bis zum 1.Oktober 1985 von der Krankenkasse erstattet), könne von vorsätzlicher Tötung keine Rede sein. Die Staatsanwaltschaft hält es also für korrekt, daß es in dem Prozeß nur um die Delikte „Täuschung über die Qualität einer Ware“ und „unterlassene Hilfeleistung“ mit geringen Höchststrafen ging. Bis 1985 hatte kein einziger Arzt den Mut, die Bluter darüber aufzuklären, daß die Transfusionen riskant geworden waren. In dieser Zeit wurden 1.500 Bluter mit dem HIV-Virus infiziert, 256 sind bereits an Aids gestorben. Bis zur Urteilsverkündung werden weitere der Krankheit erlegen sein.