Der Siegeszug eines Hustenmittels

■ Immer mehr werden von Heroin abhängig, immer mehr sterben/ Aufgrund eines Überangebotes ist der Stoff konzentrierter und billiger geworden

Mitte der achtziger Jahre konnten sich die Drogenexperten den schönsten Hoffnungen hingeben. Die Zahl der Heroin-Abhängigen stagnierte oder war rückläufig; der Stoff war teuer und schlecht; immer weniger Jugendliche ließen sich mit der härtesten aller Drogen ein. Heroin war offensichtlich nicht mehr en vogue. Spätestens 1988 zeigte sich jedoch, daß diese Hoffnungen getrogen hatten, und seitdem spitzt sich die Situation der Drogenabhängigen von Jahr zu Jahr dramatisch zu.

Fielen der Polizei 1985 insgesamt 3.246 „Erstkonsumenten“ harter Drogen auf, so waren es im letzten Jahr 13.038. Im Jahr 1985 starben 324 Abhängige an harten Drogen — es waren und sind dies fast ausschließlich Heroinabhängige, die sich eine Überdosis oder mit anderen Giften wie Arsen gepanschten Stoff injizieren.

1990 schnellte diese Zahl auf 1.491 in die Höhe, im vergangenen Jahr waren es 2.125. Rechnet man die Todesfälle auf die Bevölkerung um, so liegt Bremen vor Hamburg, Berlin und Hessen an der Spitze. Die ehemalige DDR spielt dabei nach wie vor keine nennenswerte Rolle. Aufschlußreich ist eine Spezifizierung nach Geschlecht. Nur 15Prozent derer, die an Heroin starben, waren Frauen.

Auch in diesem Jahr wird ein neuer trauriger Rekord erreicht werden. Bis zum 31.Juli waren beim Bundeskriminalamt bereits 1.039 Tote gemeldet. Die Wiesbadener Rauschgiftfahnder rechnen damit, daß der makabre body count Ende dieses Jahres mit mehr als 2.500 abgeschlossen werden wird. Inzwischen rechnen sie mit 120.000 Heroinabhängigen in Deutschland.

Heroin — chemisch „Diacetylmorphin“ — wurde 1898 in den Labors von Bayer in Elberfeld erfunden und bis zum ersten Weltkrieg als besonders für Kinder geeignetes Hustenmittel in alle Welt verkauft. 1968 kam es mit den GIs aus Vietnam wieder nach Deutschland zurück. Inzwischen liegt das Geburtsland dieses extrem süchtig machenden Opiats, was die Zahl der Konsumenten und der Toten anbelangt, in Europa unangefochten an der Spitze.

Zum Teil läßt sich der fatale Aufstieg des Heroins wirtschaftlich erklären. Im Goldenen Dreieck und Goldenen Halbmond, den wichtigsten Opiumanbaugebieten der Welt, werden seit Jahren Rekordernten eingefahren. Inzwischen wird auch im Süden der valutahungrigen Ex- UdSSR munter papaver somniferum, respektive Schlafmohn, angebaut. Das Überangebot hat dazu geführt, daß der in Deutschland angebotene Stoff immer reiner und billiger wird. Enthielt das Mitte der achtziger Jahre als Heroin verkaufte Pulver meist nicht mehr als fünf Prozent der Droge, sind heute dreißig Prozent die Regel. Gleichzeitig fielen die Preise um rund zwanzig Prozent.

Andere Erklärungsmuster des Heroin-Booms gehen von der psychosozialen Situation Jugendlicher und junger Erwachsener aus. Hierbei sind Individualisierung der Lebensstile, Vereinzelung und gesellschaftlicher Wertezerfall die Stichworte hilfloser Jugendexperten. Offenbar produziert diese Gesellschaft eine immer größere Zahl von Menschen, deren einziges Sinnen und Trachten es ist, sich möglichst effektiv aus der Wirklichkeit auszublenden. Dabei ist vielen jedes Mittel recht, vom Alkohol über Medikamente aller Art bis zum Heroin. Waren bislang noch verschiedene Gruppen von Abhängigen deutlich zu unterscheiden, gilt mehr und mehr die Devise: Egal was es ist, Hauptsache es knallt.

Im vergangenen Jahr beschloß die Bundesregierung einen „nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan", der nach wie vor der Effektivierung der Repression großes Gewicht beimißt. Trotz — oder böse argumentiert auch wegen — der repressiven Strategie steigt die Zahl der Abhängigen und Toten wie nie zuvor. Die Alternative zum traditionellen und erfolglosen „Krieg gegen das Rauschgift" wäre die reglementierte Freigabe oder die staatlich kontrollierte Ausgabe von Heroin oder anderen Opiaten an Abhängige. Sie wird kommen, es stellt sich eigentlich nur noch die Frage wann. Michael Sontheimer