Harte Welle auf der Drogenszene

■ Die Zahlen sind alarmierend. 13.038 Erstkonsumenten harter Drogen wurden allein 1991 verzeichnet. Die Zahl der Drogentoten lag Ende Juli 1992 bereits bei 1.039. Die Bundesregierung setzt weiter auf die...

Harte Welle auf der Drogenszene Die Zahlen sind alarmierend. 13.038 Erstkonsumenten harter Drogen wurden allein 1991 verzeichnet. Die Zahl der Drogentoten lag Ende Juli 1992 bereits bei 1.039. Die Bundesregierung setzt weiter auf die Kriminalisierung der Konsumenten. Eine rationale Debatte über Drogen wird immer schwieriger. Ein neuer Ansatz, Junkies zu helfen, wird in Berlin erprobt.

Scheiße nochmal, womit soll ich denn sonst mein Geld verdienen? Hast Du 'ne Ahnung, was es heißt, ständig Kohle für den nächsten Schuß zu brauchen?“ Wohl zum hundertsten Mal, seit sie hier arbeitet, legt sich die 19jährige Angela mit genervten Anwohnern an. Sie weiß, daß sie auf dem Straßenstrich mitten in Berlin nicht gern gesehen ist. „Hier brauche ich aber wenigstens keinen Zuhälter, der auf mich aufpaßt und Kohle kassiert.“

Seit Jahren brodelt es im Berliner Bezirk Tiergarten rund um den U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Hier halten sich regelmäßig etwa 800 von geschätzten acht- bis zehntausend Berliner Drogenabhängigen auf. Die meisten Frauen schaffen an, die meisten Männer klauen, brechen Autos auf, schnorren. Zwei- bis dreihundert Mark täglich brauchen sie für ihren Stoff. Um Entzugserscheinungen zu umgehen, schlucken sie an Tabletten, was ihnen in die Finger kommt — immer mehr sterben an Mischintoxikationen, vor zehn Jahren noch so gut wie unbekannt. Pro Freier kassieren die Prostituierten zwischen 40 und 50 Mark — ein harter Arbeitstag.

Doch den sehen die meisten Anwohner nicht. Sie ertragen den Müll nicht mehr. In den Gärten und auf Plätzen häufen sich Kondome und Spritzen, in Sandkisten kochen zwischen spielenden Kindern Junkies ihr Heroin auf. Nachts hält der Freiersuchverkehr die Leute wach, Eltern sorgen sich um ihre Kinder, haben Angst vor Infektionen, Anmache und Gewalt. Aus Protest sperrten in diesem Sommer Anwohner wochenlang jeden Freitag eine Straßenkreuzung. „Wir wollen hier endlich wieder ruhig leben können“, empört sich die Lehrerin Manuela F. „Es wird immer unerträglicher. Sollen Nutten und Junkies doch sehen, wo sie bleiben.“

Vor eineinhalb Jahren forderten Tiergartener Bürger einen Sperrbezirk. Der Wunsch wurde abgelehnt; statt dessen installierte der Stadtteilverein einen bisher wohl einzigartigen Runden Tisch. In fünf Sitzungen sollte unter Teilnahme von Selbsthilfegruppen, Elternvertretern, Anwohnern, Stadträten und Polizei versucht werden, das Leben im Bezirk für alle erträglicher zu machen — auch für Prostituierte und Junkies. So hoch die Wogen auch schlugen, es wurden „konkrete kleine Brötchen“ gebacken, wie der gastgebende Pfarrer Wittrowsky sich ausdrückt. Die Straßenreinigung und -beleuchtung wurde verstärkt, das Gebüsch an einigen Plätzen gelichtet, an den Schulen über den Umgang mit Spritzen aufgeklärt. Den meisten reicht das jedoch nicht. „Hier wird doch eh' nur am grünen Tisch diskutiert“, erregt sich ein Student.

Ein „Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis“ machte schließlich im Mai unter Federführung der Berliner CDU-Abgeordneten Marion Kittelmann gegen den Runden Tisch mobil. Unter dem Titel „An der Bevölkerung vorbei“ bezeichnete ein Flugblatt die Ergebnisse als „vernichtend“. Der Kreis sei von Befürwortern einer Drogenfreigabe mißbraucht worden, die „den Erhalt und Ausbau der Drogenszene fordern“. Tatsächlich hatte sich eine AG Drogen unter Teilnahme des — verglichen mit seinen Hamburger und Bremer Kollegen nicht gerade als übermäßig liberal geltenden Landesdrogenbeauftragten Wolfgang Penkert — für einen Ausbau der Angebote für Junkies, von Spritzentausch über Substitution bis Therapie, eingesetzt.

Dreimal in der Woche steht jetzt ein Spritzentauschbus in Tiergarten Süd. Ansonsten gibt es Spritzen im Automaten, der nach Anwohnerprotesten schon diverse Male seinen Platz wechseln mußte. Die gesundheitliche Verfassung der Junkies bezeichnet Astrid Leicht von „Fixpunkt“, Träger des Spritzentauschs, als „desolat“. Haut- und Nierenkrankheiten nähmen zu, Tuberkulose breite sich aus, von HIV-Infektionen ganz zu schweigen. Im Bus gibt es außer sauberen Nadeln auch Alkoholtupfer, Ascorbinsäure zum Aufkochen des Heroins, Wundsalbe, Pflaster und Tee. An einem Abend kommen bis zu 200 Junkies. „Ich dachte, ich wäre abgehärtet“, erzählt ein Mitarbeiter. „Aber als ich hier angefangen habe, bin ich fast umgefallen.“ Während er erzählt, schleppt sich eine Frau in den Bus — bei 30 Grad mit langer Hose und Cowboystiefeln. „So wie meine Beine aussehen, kann ich keine kurzen Hosen anziehen.“ Ihre Unterarme sind von offenen Wunden und Eiterbeulen übersät, die Hälfte der Zähne sind ausgefallen. Mit Salbe und Pflaster verarztet sie sich. „Gestern habe ich mir zum ersten Mal in die Leiste geschossen“, sagt sie. „Jetzt kann ich kaum noch sitzen.

Im vergangenen Jahr hatte Berlin erstmals den traurigen Rekord von mehr als 200 Drogentoten zu verzeichnen. Nach einer wissenschaftlichen Untersuchung könnte über die Hälfte gerettet werden, wenn früh genug ein Arzt käme. Im September startet „Fixpunkt“ deshalb ein Arztmobil auf der offenen Drogenszene. Druckräume werden vom Landesdrogenbeauftragten weiterhin abgelehnt. Er setzt auf Prävention und Therapie, nur keine Kapitulation vor der Droge. Vielen, die hier stehen, kann damit nicht mehr geholfen werden.

Die Wartezeit für eine Therapie beträgt bis zu zwei Jahre. Wer eine Entgiftung hinter sich und eine Therapie abgebrochen hat, fängt meist keine neue an. Würde man die Junkies selber fragen, sähe ihr Hilfesystem anders aus. Nach einer Studie der Deutschen Aids-Hilfe wünschen sich über 80 Prozent straffreien Drogenbesitz, mehr Kontaktläden, schnellere Entgiftungsmöglichkeiten und eine bessere ambulante Versorgung. „Die lassen mich hier verrecken, nur weil ich ihren Therapiezirkus nicht mitmache“, sagt ein Junkie — seit zwölf Jahren auf Heroin, zahlreiche Ausstiegsversuche hinter sich. „Können sie haben. Lange wird es wohl nicht mehr dauern.“ Jeannette Goddar, Berlin