Kleinkinder sind „familienpolitisch tabu“

■ Bis 1995 muß Bremen 3.000 neue Kindergartenplätze schaffen / Die Kleinsten gehen leer aus

„Mit dem Kindergartenbau, den das Sozialpaket des 218 vorschreibt, sind die Kommunen überfordert“, findet Ilse Wehrmann, die Leiterin des Landesverbandes für Evangelische Kindertagesstätten in Bremen. Die sozialen Zusatzbestimmungen zur Neuregelung des §218 verlangen eine Vollversorgung mit Kindergartenplätzen bis 1995. Kindergärten müssen die Kommunen einrichten. Doch weil von der Steuererhöhung nur der Bund profitiert habe, fordert Ilse Wehrmann, daß Bonn sich an den Kosten für die Kinderbetreuung beteiligen muß. Die Leiterin des Landesverbandes findet es „doppelbödig und unglaubwürdig“, wenn konservative Politiker einerseits versuchen, die Neuregelung des §218 zu kippen, die Schaffung von mehr Kindergartenplätzen ihnen aber andererseits zu teuer ist.

In Bremen ist die evangelische Kirche der größte nicht-öffentliche Träger von Kindergärten. Sie bietet 2.650 von insgesamt 11.304 Plätzen an. 82 Prozent der bremischen Kinder zwischen drei und sechs Jahren können derzeit mit einem Platz rechnen. Bis 1995 will die Stadt in Zusammenarbeit mit den freien und krichlichen Trägern 2.000 neue Plätze einrichten, um einen Versorgungsgrad von 90 Prozent zu erreichen. Doch das neue Gesetz, das gleichzeitig mit der neuen Abtreibungsregelung vom Bundestag verabschiedet wurde, will mehr: 95 Prozent Das bedeutet, Bremen

Enne meene muh und aus bist du - zwei von zehn Kindern müssen draußen bleibenFoto: Jörg Oberheide

muß in den nächsten drei Jahren 3.000 neue Plätze schaffen. Aber die evangelische Kirche baut erst dann neue Kindergärten, wenn ihr Eigenanteil an den Investitions- und Personalkosten geringer wird, sagt Ilse Wehrmann.

Zur Zeit trägt die bremische Landeskirche 42 Prozent der Personalkosten in den evangelischen Kindergärten. „Fast nirgends ist die Finanzierung so ungünstig für die Kiche wie in Bremen“, klagt Inge Gurlitt, die Vizepräsidentin der bremischen evangelischen Kirche. In Bayern beispielsweise werde das Personal zu 80 Prozent

hier Kinder-

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von der öffentlichen Hand finanziert. Die bremische Kirche strebt daher an, ihren Eigenanteil langfristig auf 20 bis 25 Prozent zu senken, die Stadt will es nach Auskunft der Sozialbehörde, bei 35 Prozent belassen.

Einen neuen Kindergartenplatz zu schaffen, kostet, wenn extra ein neues Gebäude hingestellt werden muß, um die 35.000 Mark, schätzt Heidemarie Rose, Leiterin der Abteilung junge Menschen beim Sozialsenator. Der Landesverband für evangelische Kindertagesstätten liegt mit seiner Schätzung noch 5.000

Mark höher. Doch die Stadt will die neuen Plätze nicht allein durch den Bau neuer öffentlicher Einrichtungen, sondern auch eine bessere Finanzierung der Eltern- Kind-Gruppen erreichen.

Zahlenspielereien hin oder her: Auch bei 95-prozentiger Bedarfsdeckung sind erst die älteren unter den Kleinen versorgt. Bei den unter Dreijährigen gibt es keine Zielvorgaben und einen lächerlich geringen Versorgungsgrad: Neun Prozent der Kinder unter drei Jahren können in Bremen in einer Krabbelgruppe, einem Spielkreis (nur an zwei bis drei Tagen in der Woche) oder bei einer Tagesmutter unterkommen. Ganze 80 Krippenplätze stehen im Stadtstaat zur Verfügung. „Für öffentliche und kirchliche Träger sind die unter Dreijährigen bislang ein Tabu“, glaubt Ilse Wehrmann.

Für die Kirche ist die Betreuung kleinerer Kinder „ein ganz neues Aufgabengebiet“, sagt Inge Gurlitt. „Das hängt vielleicht ein bißchen mit dem Familienbild zusammen: Daß es vielleicht für Kinder unter drei Jahren besser ist, nicht öffentlich erzogen zu werden.“ Doch Ilse Wehrmann ist der Meinung, es sei den Müttern nicht zuzumuten, drei Jahre in ihrem Beruf auszusetzen - abgesehen davon, daß viele sich das gar nicht leisten könnten.

Die Leiterin des Landesverbandes hat aber noch ganz andere Sorgen: Sie fürchtet um die Qualität der Kinderbetreuung. In den evangelischen Kindergärten sei mittlerweile eine Erzieherin für 20 Kinder zuständig, nur noch ein Drittel der Praktikantinnenstellen sei besetzt. „Die sozialen Berufe müssen aufgewertet werden“, fordert Ilse Wehrmann, „es gibt nicht mehr viele Frauen, die allein aus sozialer Berufung diesen Beruf wählen, um anderen zu dienen.“ Doch solange der Ausbau des Weserstadions wichtiger sei als der Bau von Kindergärten und „man es einfach erträgt, daß 3000 Kinder keine Plätze haben“, sieht sie wenig Aussichten auf Besserung. Sozialpolitik sei eben „Männerpolitik“. dir