: Rückzug ins Private
■ Verspielt, individualisierend und ins Requisit verkrampft: Turrinis »Kindsmord« als Gastspiel in der Rost-Bühne
Peter Turrini hat sein 1973 geschriebenes Drama »Kindsmord« ein »Stück über den bürgerlichen Wahnsinn« genannt, »über die Verhältnisse, die solange in Ordnung sind, bis sie in einem Mord enden«. Eine Frau, aufgewachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen, umsorgt vom liebenden Vater, begreift eines Tages, daß alles, was sie bisher gedacht und getan hat, gar nicht aus sich selbst heraus gedacht und getan wurde, sondern immer gelenkt war durch die in ihrer Umwelt festgeschriebenen Normen und Grenzen. Sie bricht aus dieser bürgerlichen Enge aus, flieht in eine Beziehung mit einem Mann, merkt aber , daß sie wieder eine Rolle spielt, immer darauf bedacht, nichts falsch zu machen und sich so zu verhalten, daß sie dem Mann gefällt. Sie wird schwanger, möchte diese Schwangerschaft als etwas ganz Besonderes für sich selbst begreifen, erlebt aber, daß sie auch jetzt nur eine Funktion erfüllt. Zu lange denkt sie über Abtreibung nach, aber bürgerliche Ressentiments lassen sie zurückschrecken. Dann ist es zu spät, und sie muß das Kind bekommen. Kurz nach der Geburt ertränkt sie es in der Badewanne.
Bei Turrini erzählt die Frau ihre Geschichte im Rahmen einer Gerichtsverhandlung. Die Fragen des Richters sind sachlich gestellt, nur Fakten interessieren. Auch die wenigen verständnislosen Zwischenbemerkungen des Vaters und des Freundes entlarven einen gesellschaftlichen Mechanismus, der die Geschlechterfrage eindeutig zugunsten der Männer beantwortet und durch eine gegen die Frauen gerichtete Gesetzgebung Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt.
Die Inszenierung von Jens Zörner hat einen schwer verständlichen Ansatz gewählt, der im Programmheft deutlich formuliert wird: Die Beteiligten sehen ganz klar den aktuellen Bezug zur Debatte um den Paragraphen 218, legen aber ihren Schwerpunkt auf die individuelle Geschichte der Frau und wollen »allgemeine gesellschaftliche Fakten« rauslassen. Um dieses Ziel zu verfolgen, haben sie die ungemein dichte Dramaturgie Turrinis aufgebrochen. Die Bühne ist in einzelne Spielorte zerlegt, zwischen denen sich die Schauspielerin Bettina Weber hektisch bewegt. In Rückblenden spielt sie ihre Geschichte noch einmal durch. Die Figuren des Richters, Vaters und Freundes sind nur als Stimmen vorhanden. Die Schauspielerin reibt sich in Äußerlichkeiten auf und unterscheidet nicht mehr zwischen Vorgängen, die den inneren Prozeß deutlich machen, und solchen, die einfach nur Spielereien sind.
Offensichtlich und ihrer Lesart entsprechend haben die Beteiligten konkrete soziale Hintergründe verwischt. Die jahrhundertealte Unterdrückung der Frau durch den Mann wird als Problem begriffen, das unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen existiert. Indem die Inszenierung aber nur das individuelle Schicksal dieser Frau ins Zentrum stellt, verliert die Geschichte an Aussagekraft. Gerade heute kann ein Thema wie Kindsmord doch unmöglich losgelöst von konkreten und benennbaren gesellschaftlichen Zusammenhängen behandelt werden! Man fragt sich, warum die Truppe dann überhaupt gerade das Stück spielt. Es findet ein Rückzug ins Private statt, der auch das Engagement von Menschen, die gegen den Paragraphen 218 kämpfen, negiert.
Bei mehr Vertrauem zum Text hätte es der Regisseur vermutlich leichter gehabt. Statt dessen wird durch häufige Lichtwechsel und Toneinsätze die Handlung durchgepeitscht. Bettina Weber spielt diese Kindfrau mit großem emotionalen Einsatz, und an Einfällen fehlt es nicht. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb sind die Gedanken der Figur oft schwer zu verfolgen. Die Schauspielerin scheint in ihrem Kampf mit Requisiten überfordert. Ständig muß sie irgendwelche Dinge hervorkramen und wieder wegräumen. Wenige Momente gibt es, wo ein Detail mehr erzählt als viele äußere Spielabläufe vorher. Zum Beispiel wenn sie, bedrängt durch eine Frage oder eine Erinnerung, ihr Parfümspray aus der Hosentasche zieht und sich nervös die Hände damit wäscht. Oder wenn sie scheinbar gedankenlos drei unterschiedliche Blütenstiele mit einer kleinen Nagelschere so lange beschneidet, bis nichts mehr übrig ist und sie sie in den Mülleimer wirft. Solche Kleinigkeiten lassen die inneren Prozesse der Frau nachvollziehbar werden und machen das Spiel sinnlich erlebbar. Leider werden solche Momente gleich wieder weggedrängt und gehen in der allgemeinen Überfrachtung unter. Sibylle Burkert
Peter Turrini: »Kindsmord«, zu sehen bis zum 31. August jeweils freitags bis montags. Knesebeckstr. 29, Beginn 21 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen