piwik no script img

Die Familie des Ausgestossenen und die Partei

■ Annette Leos „Briefe zwischen Kommen und Gehen“

Die Ostberliner Historikerin und Journalistin Annette Leo hatte sehr lange eine „positive Grundhaltung“ zur Deutschen Demokratischen Republik. Sie wurde 1948 in Düsseldorf geboren und siedelte sechsjährig mit den Eltern, die sich zum Arbeiter- und Bauern-Staat bekannten, nach Ostberlin über. Ihr Lebenslauf ist über weite Strecken sozialistisch-mustergültig. So mustergültig, daß sie zu Arbeitszwecken zweimal nach Frankreich darf. Ab und zu stellt sie naive Fragen zu Themen, die man mit jener positiven Grundhaltung besser nicht berührt hätte. Dabei bleibt es bis zum Anfang der 80er Jahre. Dissidentin wird sie nie.

Der Dissident in der Familie war ihr Großvater Dagobert Lubinski (1893-1943). Seine Briefe aus dem Gefängnis sind das Gerüst für ein Buch, das jetzt im BasisDruck-Verlag erschienen ist. Mit dem Weg des Großvaters, der sich vom Judentum löste, Kommunist und später führendes Mitglied der KP-Opposition (KPO) wurde, verknüpft sie Lektionen deutscher Geschichte: jüdische, kommunistische, die der Frauen. Mit diesen Lebenswelten, die in der Familiengeschichte aufeinandertreffen, verbindet Leo die Geschichte der DDR durch Exkurse in die eigene Biographie.

Um Personen geht es und erst in zweiter Linie um den historischen Ablauf. Lubinski, Kritiker der stalinistischen Praktiken innnerhalb der KPD und Mitglied der KPO, wurde 1929 aus der KPD ausgeschlossen. Mit der Machtergreifung Hitlers mußte er seine politische Arbeit illegal fortsetzen, wurde verhaftet und nach sechsjähriger Haft in Auschwitz umgebracht.

Zu seiner Geschichte gehört die zweier Frauen: Die der Ehefrau, Charlotte, die die Kinder großzog, und die der Geliebten, die wie er zur Gruppe der Widerständler gehörte. Akribisch hat Annette Leo vage Spuren verfolgt, Friedhofsbücher, Standesämter und Prozeßakten durchforstet, Kinder und Gefährten befragt. Ihre Kindheitserinnerungen an Charlotte, die Großmutter, ergänzen die Recherchen. Unter ihrer Hand verselbständigen sich zuweilen die Darstellungen der Befragten und die Dossiers. Die entstandenen Bilder sind nicht vollständig, die exakte Rekonstruktion ist unmöglich. So gibt es immer wieder Stellen, an denen Annette Leo spekuliert, fragt, ohne Antworten zu finden. Schrittweise tastet sie sich in die vergessene Vergangenheit, fügt Zeitungsberichte, Briefe, Notizen aneinander.

Nach Ende des Krieges hatte sich niemand in der Familie, wie zuvor der Großvater, gegen den Parteiapparat aufgelehnt. Annette Leo, als Kind vor Zweifeln behütet, erfährt nur Bruchstücke aus dem Lebenslauf des Großvaters. Vierzig Jahre nach seinem Tod erhält sie seine Briefe von ihrer Mutter. Bis dahin hat sie sich mit Andeutungen zufriedengegeben, die alle dasselbe ausdrückten: Fragen unerwünscht. Das verwundert, war doch antifaschistischer Widerstandskampf bereits für Sechs- bis Zehnjährige obligates Thema von Pioniernachmittagen. Aber es existierte eine seltsame Übereinkunft, zu schweigen zwischen der Familie des Ausgestoßenen und der Partei. Der Zwang, denjenigen, der „aus den eigenen Reihen“ Kritik an der Partei geäußert hatte, als Persona non grata zu behandeln, war stärker als das Bedürfnis, ihn für Propagandazwecke zu vereinnahmen. Und die Familie, nach der Verfolgung durch die Nazis der Auseinandersetzungen müde, akzeptierte das.

Die Ehrlichkeit, mit der Annette Leo auch die eigene Rolle hinterfragt, ist beachtlich. Indem sie die verschiedenen geschichtlichen Etappen ineinander verschränkt darstellt, zeigt sie Mechanismen der Macht und Verbindungen zwischen Politik und Privatem. Sie beschreibt teils aus der Distanz der Nachgeborenen, teils mit dem Engagement der Betroffenen.

Weil selbst involviert, fehlt ihr die Bereitschaft zum schnellen Urteil. Sie fragt hartnäckig nach den Weißstellen in der Erinnerung der Eltern. Sie selbst, bis Anfang der 80er Jahre bereit, sich — aus Loyalität oder Bequemlichkeit? — auf halbe Lügen und halbe Wahrheiten einzulassen, zog Konsequenzen. Sie kündigte ihre Stelle als Redakteurin der Zeitschrift NBIund arbeitete freiberuflich an diesem Buch. Sie habe dabei gelernt, sagt sie, eigene Gedanken zuzulassen, und die Angst verloren, auf der falschen Seite zu stehen. Friederike Freier

Annette Leo: „Briefe zwischen Kommen und Gehen“. Berlin: BasisDruck-Verlag, 1992, 26,80 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen