György Konrád: An Europas Horizont kichert der Wahnsinn

Wo ist Europa zu Ende? Wo sollen wir die Grenze ziehen? Wo sollen wir das Tor schließen?

Im Osten und auf dem Balkan steht Europa offen. Von dort können alle möglichen gefährlichen Typen hereinströmen, Leute, die lieber etwas holen als bringen wollen. Provinzielle Ruhestörer sind sie, dummes Zeug geben sie von sich, betrinken sich und fallen übereinander her. Durch die Ritzen dringt der Virus der Partikularisierung ein. Was fällt den Schotten und den Dänen ein?! Von Unruhe erfaßt, blasen sie sich alle auf. Wir sind nicht weniger wert als die anderen! Zu einer Geheimschrift wird unsere Literatur verkommen? Macht nichts. Dann wird sie wenigstens wirklich uns gehören. Solches ist zu hören. Die Dialekte erheben sich in den Rang der Literatursprache. Die Provinzen streben Autonomie an, die Großstädte halten es zusehends für unbegründet, sich der Hauptstadt unterzuordnen, demgegenüber haben die Amtsträger der Zentrale Angst vor einer Balkanisierung. Mit ihrem aufrührerischen Ethnozentrismus können obskure Figuren einigen Erfolg verbuchen, an Europas Horizont kichert der Wahnsinn.

Irgendwo in Jugoslawien, im Kaukasus oder anderswo wird sich ein Vater allmählich bewußt, daß er seinen Sohn erschossen hat. Ein Kind wird gefragt, auf wessen Seite es steht, auf der des Vaters oder der der Mutter. Entscheide dich zwischen deinen Eltern! Und scheiden lassen sich auch die Ehepaare, der eine geht in diese, der andere in jene Richtung. Meine Familie hast du ausgerottet? Warte nur, ich werde deine Familie ebenso vernichten!

Im Krieg der Großväter bekämpften sich das Unter- und das Oberdorf, mit Minenwerfern beschossen sie sich gegenseitig, steckten ihre Häuser und Scheunen in Brand, fremder Besitz wurde hin- und hergeschleppt. Und was bietet sich ihren verwunderten Blicken nun dar? Duro, der Gefährte von einst, rennt mit einer Fackel in der Hand umher und legt Feuer in unseren Häusern. Was sonst könnte Pero dagegen unternehmen? Auch er besorgt sich eine Fackel, und nunmehr flitzt er gleichfalls umher und läßt die Häuser der anderen brennen. Anfangs ist die nationale Idee ein unschuldiges Mädchen, um schließlich die mörderische Maske des Wahnsinns anzulegen. Angefeuert wird Peros und Duros vorauseilender Gehorsam von geistigen Wortführern.

Wie kann man sich in gemischten Siedlungsgebieten uneingeschränkte nationale Selbstbestimmung vorstellen? Muß man nicht vielmehr damit rechnen, daß sich innerhalb jedes abgefallenen Teils weitere Teile artikulieren werden, die sich ebenfalls loslösen wollen? Warum sollte die nationale Souveränität ein unantastbares Prinzip sein, insbesondere dann, wenn es gegen die nationale Souveränität der anderen verstößt, die im selben Gebiet leben? Die Achtung der grundlegenden Menschenrechte macht die Einschränkung der nationalen Souveränität erforderlich. Ein und derselbe europäische Mund kann gleichzeitig nicht zwei verschiedene Melodien pfeifen. Er kann nicht die Menschenrechte befürworten und zugleich politische Bestrebungen unterstützen, aus denen notwendigerweise die Verletzung der Menschenrechte resultiert.

Wenn eine föderative Teilrepublik ohne vertragliche Abmachung mit den anderen, ohne jede formale Loslösungsprozedur aus der Föderation ausscheidet, einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt und konstitutionell einen Staat der Mehrheitsnation ausruft, wenn allerorten die dort geltenden ethnischen Proportionen zählen, dann wird es in diesen politischen Gebilden Staatsbürger zweiter Klasse geben, die ratsamerweise ihre nationale Identität leugnen und sich beeilen sollten, die nun an die Macht gekommene Mehrheitsnation ihrer Loyalität zu versichern.

Durfte sich jemand bisher als gleichberechtigter Bürger der Bundesrepublik fühlen, und zwar unabhängig davon, in welcher Teilrepublik er lebte, so sieht er nun schwere Zeiten nahen, ist doch die politische Klasse von der territorialpolitischen Definition des Staats zu dessen ethnisch-nationaler Definition übergegangen. Ob der Angehörige einer Minderheit die Staatsbürgerschaft erhält, das hängt davon ab, wie deutlich er für die Mehrheitsnation — unter Umständen sogar gegen die eigene Nation — Stellung bezogen hat.

Je jünger ein Nationalismus, desto ungeduldiger fordert er von der beherrschten Minderheit die Assimilation, die Selbstverleugnung. Dabei gehört das Assimilationsbegehren noch immer zu den zivilisierteren Verhaltensmustern. Auch einfachere Methoden sind bekannt! Beispielsweise das halbe Dorf ausrotten, die Kunde davon in den anderen Dörfern verbreiten, um diese angesichts einer drohenden Wiederholung einer solchen Maßnahme in Angst und Schrecken zu versetzen, so daß die Minderheit daraufhin Hals über Kopf die Flucht ergreift, alles zurücklassend.

Millionen Menschen werden heimatlos, und schuld daran sind die Politiker. Die Verabsolutierung nationalen Selbstbestimmungsrechts in Gebieten mit gemischter Bevölkerungsstruktur sowie anstelle des föderativen Prinzips die Unterstützung des Separatismus sind ein äußerst gefährliches Spiel. Potentiell kann es einen Flüchtlingsstrom von mehr als zehn Millionen Menschen und Kriege zwischen verschiedenen Staaten auslösen. Angesichts der Verlustliste müssen sich die Politiker die Frage nach der Verantwortung stellen, die sie für die gegenwärtige Entwicklung und die schreckliche Ausweitung der Konflikte tragen.

Wer die neuen Nationalismen — ohne daß die Kriterien und Bedingungen dafür in korrekten und internationalen Verträgen ihren Niederschlag gefunden hätten — unterstützt, der trägt an dem hervorgerufenen menschlichen Leid mittelbar auch selbst Mitverantwortung; der muß die Toten sehen, die Heimatlosen, die bisher eingetretenen und auch für die Zukunft zu erwartenden Rechtsverletzungen.

Weder Pero noch Duro sind aufgefordert, am Waffengang internationalen High-Techs zu partizipieren. Ich als ein anderer Europäer, ich als jemand, der in der Nähe des Konfliktherdes lebt, also als fast betroffener Nachbar, warum sollte ich im Bruderzwist eindeutig für Pero oder Duro Partei ergreifen? Daß sich die anderen Europäer als dritte oder vierte Partei in die Auseinandersetzung hereinziehen lassen, wünsche ich mir nicht. Warum sollten Ausländer auf ferne Gebirgsbewohner schießen müssen, wenn die aufeinander das Feuer eröffnen?

Warum sollte das Selbstbestimmungsrecht der einen Nation weniger wert sein als das der anderen? Erkennen wir die Übereinstimmung eines Staats mit seinen international festgelegten Grenzen nicht an, warum sollten wir dann innerhalb dieses Gebildes die ziemlich willkürlich gezogenen Binnengrenzen als gültig hinnehmen, wo diese doch den ethnischen Siedlungsgegebenheiten nicht entsprechen und durch internationale Verhandlungen nicht abgesichert sind?

Warum sollten im ehemaligen Jugoslawien ausgerechnet nur sechs legitime Republiken existieren? Warum sollten es nicht acht sein? Und warum sollte die internationale Öffentlichkeit nicht das Recht der Albaner und der Ungarn auf Autonomie beziehungsweise Anschluß anerkennen? Wenn sich die Kroaten von Jugoslawien trennen dürfen, warum dürfen sich dann die Krainer- Serben nicht von Kroatien loslösen, die bosnischen Serben nicht von Bosnien, die Albaner nicht von Serbien und Mazedonien, die Ungarn nicht von der zu Serbien gehörenden Wojwodina?

Wenn die Europäische Gemeinschaft neue Grenzen als internationale Grenzen anerkannt hat, warum könnte sie dann den eingeschlagenen Weg nicht weiter verfolgen, mit dem Ziel nämlich, die ethnischen Gemeinschaften durch den Grenzverlauf möglichst wenig zu beeinträchtigen?

Ist es ein Wunder, wenn die unmittelbar Betroffenen mangels gesetzlicher Regelungen mit Waffengewalt versuchen, ihren vermeintlichen Rechten Geltung zu verschaffen und so das Recht des Stärkeren die Oberhand gewinnt? Akzeptieren wir in ein und demselben Gebiet mehrere Legitimitäten und gehen wir ohne konstitutionelle internationale Rechtsprozedur von einer Souveränität zur Anerkennung einer anderen über, dann übernehmen wir für den Krieg der Milizen unvermeidlich Verantwortung.

Wenn ohne Vereinbarung nationale Milizen entstehen, warum wundern wir uns dann, daß deren Legitimität von der bisher allein legitimen Armee nicht anerkannt wird, daß diese sich erst dann mit deren Existenz beziehungsweise mit dem Verzicht auf das gesetzlich verankerte Bewaffnungsmonopol abfindet, wenn die sich ihr widersetzenden Kräfte zum Nachgeben gezwungen werden, wenn sie sich der Übermacht beugen müssen, nicht aber der Verfassung des Staatenbunds, nicht dem auf Verhandlungen und Verträgen basierenden internationalen Recht?

Warum also wundern wir uns, daß sogar in Dörfern eigene Milizen aufgestellt werden, die gelegentlich auch Räuberbanden gleichen? Doch ein jeder von ihnen, das müssen wir uns bewußt machen, hat Angst um sein Haus, um seine Familie, und alle meinen sie, sich für den Tod der Ihren zu rächen. Bevor wir irgendeine Entscheidung treffen, sollten wir an den Libanon, an Afghanistan, an Sizilien denken. Und warum sollten wir nicht eben an den Balkan denken?

Unausweichliche Folge der Un-

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gesetzlichkeit, der Zerrüttung der Autorität und der wechselseitigen aggressiven Entfremdung ist die territoriale Homogenisierung geworden. Erkennen wir das Prinzip des homogenen Nationalstaats an — und dies haben wir getan, beziehen wir uns doch auf Regierungen, die verfassungsmäßig einen homogenen Nationalstaat repräsentieren —, dann sind wir verantwortlich für die nationale Homogenisierung der Territorien mit gemischter Bevölkerungsstruktur. Dann sind wir verantwortlich für militärische Aktionen zwecks ethnischer Säuberung, das heißt dafür, daß die Minderheiten wechselseitig aus jenen Gebieten vertrieben werden, die der Mehrheitsnation gehören oder die gute Aussichten besitzen, mit Hilfe einer erhofften Grenzregulierung in deren Besitz überzugehen, geleitet von der Überzeugung, daß der internationalen Öffentlichkeit letztlich nichts anderes übrigbleiben wird, als geschaffene Fakten zur Kenntnis zu nehmen.

Die Konfliktparteien wissen, daß die Milizen der — infolge der deutschen Besatzung — auseinanderfallenden südslawischen Nationen während des Zweiten Weltkrieges wechselseitig jeweils annähernd eine halbe Million Menschen abgeschlachtet haben. Die Konfliktparteien erinnern sich daran, daß sich die guten Nachbarn die schrecklichsten Ungeheuerlichkeiten zuschulden kommen ließen. Auf den Kirchen lastet wegen der zerrütteten Verhältnisse eine außerordentliche Verantwortung: Noch steht uns deutlich die Zeit des Krieges vor Augen: Katholische und orthodoxe Priester hetzten ihre Gläubigen aufeinander los, und unter Anrufung Gottes heiligten sie die fiktiven nationalen Grenzen zwischen denen, die wegen der gemeinsamen Sprache Brüder und Schwestern waren. Kann es als weise bezeichnet werden, in ethnischen Stammeskonflikten durch ein Machtwort Stellung zu beziehen? Sollte es nicht weiser sein, darauf zu beharren, daß die Rechte eines jeden Bewohners dort garantiert sein müssen, wo er lebt, und zwar unabhängig davon, welcher Religion und Nation er angehört?

Die Botschaft der internationalen politischen Gemeinschaft war halbherzig; universalistisch die Rhetorik, partikularistisch die Praxis. Und nun ist diese internationale Gemeinschaft verwirrt, weiß sie doch nicht, bis zu welcher Grenze sie partikularistisch sein soll, wo ein Punkt zu setzen ist, wo dem Zerstückelungsprozeß Einhalt geboten werden muß, den man übrigens innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mißbilligt.

Die Vorstellung, daß die westliche Hälfte Europas vom Geist der Zerstückelung unberührt bleiben wird, ist ein Irrtum. Solange es jemanden gibt, der besser, und jemanden, der schlechter fährt, werden Ressentiments und vielerlei Partikularismen immer und immer wieder aufeinanderstoßen, und das mit viel Mühe errichtete und dennoch unvollkommen bleibende Gebäude vorhandener Integrationen wird in Frage gestellt werden.

Es kommt vor, daß Nicht-Handeln und Nicht-Parteiergreifen von mehr Weisheit zeugen als Handeln und Parteiergreifen für eine Konfliktpartei. Europa sollte sich nicht erst dann als Friedensstifter versuchen, wenn das Feuer ausgebrochen und der Tanz bereits in vollem Gange ist. Gräben müssen das Überspringen der Funken verhindern, der Brand muß isoliert werden; darin besteht die Aufgabe der dritten Seite. Wer nicht abwarten kann, und sei es resigniert, bis die kämpfenden Parteien müde werden und zu sich kommen, der verpaßt im voraus den geeigneten Zeitpunkt des Einschreitens, wo sich das Ziel mit den geringsten Menschenverlusten erreichen läßt.

Europas Sache ist es, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen und eine Plattform für einen Vergleich vorzuschlagen. Von Voreingenommenheit und ideologischem Engagement muß sich die dritte Partei freimachen. Die Entwicklung komplexer und einmaliger vertraglicher Formeln sowie die Überzeugung der Konfliktparteien vom Sinn der gemachten Vorschläge, darin besteht unsere Aufgabe.

Da die Unsicherheit der Ostgrenze jenen grenzsensiblen Teil der Europäer, der sich nachhaltig abzuschotten wünscht, in Schwierigkeiten bringen kann, und da sich der Eiserne Vorhang in seiner ursprünglichen Form nur schwer wiederherstellen läßt, bildet sich eine allmähliche Abgrenzung heraus. Die Integration ganz Osteuropas in die Europäische Gemeinschaft ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Prinzip stufenweiser Annäherung wird auf die Landkarte projiziert, und die verschiedenen Zonen vorhandener Chancen werden markiert. Die Peripherie wartet auf Einlaß.

Und wenn sich das Warten allzu lange hinzieht, kann das Objekt des Liebessehnens seine Anziehungskraft verlieren. Den Wartenden in den Randbezirken fällt ein, daß es dereinst eine Monarchie gegeben hat, die vom siegreichen Westen demontiert worden ist, als hätte ihn der gemeinsame Markt Mitteleuropas gestört. Die Nationalismen Osteuropas sind postföderative Nationalismen, und darin besteht ihr Schönheitsfehler. Statt in den vorhandenen Föderationen würdige Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, zerschnitten sie ungeduldig und beleidigt die bestehenden Beziehungen.

Osteuropa braucht auch weiterhin konföderative Lösungen. Sie würden den Lostrennungen einen Rahmen geben. Ihr könnt nicht leben in Jugoslawien? Ihr könnt nicht leben in der Tschechoslowakei? Dann lebt in Mitteleuropa, das sich nur stufenweise aufbauen lassen wird. In einer größeren Gesellschaft kommen auch unausstehliche Nachbarn miteinander aus. Dieses große ethnische Gebiet und dieser beachtliche Wirtschaftsraum sind nicht von der Bildfläche verschwunden, und gewiß ist es nicht klug, ihn lediglich als einen Trümmerhaufen zu betrachten.

Die Öffnung über den Balkan zum Nahen Osten und über Rußland nach Asien, darin ist für Europa eine Herausforderung zu sehen. Sich verschreckt einzuigeln ist ähnlich schlimm wie die gesamteuropäische Besserwisserei. Nachbarschaft geht mit besonderer Verantwortung einher. Die demokratische Bewegung Osteuropas hat es geschafft, ohne Gewalt auszukommen und die demokratische Wende eigentlich ohne Blutvergießen zu erreichen. Der Geist der Gewaltfreiheit und der praktische Widerstand sowie die spätere Strategie der Vertragsverhandlungen haben sich bewährt.

Sollten die Nationalismen in ihrer Ungeduld davon abkommen und den gegebenen Konflikt auf waffensensible Gebiete übertragen, so werden sie nicht nur eine Flut von Leiden hervorrufen, sondern auch auf längere Sicht eine beschwichtigende Handhabung des für sie existierenden Konflikts verhindern.

Auch weiterhin erscheint es lohnenswert, über einen mitteleuropäischen Ausgleich nachzudenken, der über eine Zwischenstufe zu einer gesamteuropäischen Integration führt, zu einer demokratischen Verfassung Europas, damit wir nicht meinen, uns wegen der Nervosität, die angesichts der Spannung des Wartens um sich greift, gegenseitig schlagen zu müssen.

Am nächsten Dienstag, dem 11.August, veröffentlichen wir die „Gedanken eines entsetzten Zuschauers“ von Paul Parin.

Aus dem Ungarischen von

Hans-Henning Paetzke.