DEBATTE
: Feigling oder tragischer Held?

■ Bei seinem Prozeß hat Honecker diese letzte Wahl

Ich habe Beißhemmung. Der Mann hat ziemlich genau das Alter meines Vaters. Du hast keine Wut auf Deinen achtzigjährigen Vater; es sei denn, er hat Gewalt über Dich und nutzt sie, um Dich zu schikanieren. Dieser schwache Pseudo- Über-Vater Erich hätte genau wie mein Vater mit 65 in Rente gehen müssen. Aber daran hinderten ihn die machtbesessenen Schmeichler. Die Ruhestandsregelung hat schon ihr Gutes.

Ich bin nicht der Meinung, daß ausgerechnet die DDR-Bürger allein das Recht hätten, über ihn zu Gericht zu sitzen. Insofern ist mir das Absurdum gerade passend, nach dem es bundesdeutsche Richter sind, die urteilen werden. Sie alle tragen kollektiv an dem Makel, daß die Aufrechnung der Verbrechen des Nationalsozialismus im formalen Rechtsdschungel verloren ging. Mir ist es als Paradoxon auch recht, daß diese Richter nach DDR-Recht urteilen müssen. Sie werden zeigen müssen: es gab da ein Strafgesetzbuch , basierend auf einer Verfassung, mit der man durchaus hätte freundlich leben können — wenn die Machthaber nicht genau diesen Ansatz über 40 Jahre verbogen und schließlich verraten hätten und dabei den Judasverrat an ihren Idealen noch als Freundeskuß ausgaben. Daß sie mithalfen, das Wort Sozialismus zum Schimpfwort verkommen zu lassen. Wer die Stirn hatte, die Mauer (was immer die rationalen Gründe für ihre Errichtung gewesen sind) ausgerechnet „antifaschistischen Schutzwall“ zu nennen und dabei jedem ins Gesicht zu schauen, ob er wagt, mit der Augenbraue zu zucken, der hat seine eigene, bessere Jugend verraten.

Die Jugend, deren besten Teil Erich in Brandenburg verbracht hat. Daß die Kommunisten, an die er glaubte, an Hitlers Machtübernahme mitschuldig wurden, indem sie die Sozis als den schlimmeren Feind ausgaben, wollen wir ihm nicht anrechnen. Er hat jedenfalls Widerstand geleistet und ist dafür brutal bestraft worden. Ich verneige mich vor allen, die es wagten, Widerstand zu leisten.

Wie allerdings jemand, der zehn Jahre in Brandenburg saß, über weitere Jahrzehnte die neuen Zustände in Brandenburg, Waldheim, Hoheneck und Bautzen zulassen und mit der Macht der allerhöchsten Verantwortlichkeit stützen konnte, wo spätestens seit 1973 eine Anordnung von ihm genügt hätte, um eine Untersuchung zu veranlassen und das politische und sonstige Strafrecht zu reformieren, ohne daß der Staat darüber hätte zusammenbrechen müssen — da setzen bei mir Verständnis und Mitleid mit dem Alter aus.

Staatsgrenzen sind letzten Endes künstliche Striche auf der Landkarte. Es mag dem Frieden dienen, wenn sie mit Zäunen bewehrt werden und wenn Polizei den Übertritt kontrolliert. Meinetwegen sollen die Polizisten auch verhindern, daß Menschen diese Grenzen ohne Erlaubnis überschreiten wollen (ich träume von einer besseren Welt, in der das ebenso überflüssig wird wie die Verhinderung einer Wanderung von Potsdam nach Werder). Von mir aus sollen sie den „Grenzverletzer“ auch einfangen, mit einem Lasso zum Beispiel. Oder im Vorfeld durch Kontrollen aufgreifen, so absurd und lächerlich sich das auch im Grenzgebiet der DDR in der Realität ausnahm. Es gibt Schlimmeres auf der Welt.

Was ich aber kategorisch für jede Grenze der Welt und ganz besonders für eine Grenze mitten durch Deutschland abstreite, ist die Notwendigkeit, von hinten auf Kletternde mit Automatikpistolen schießen zu lassen, die die Eingeweide durchsieben, wenn sie treffen. Und kalte Wut kommt in mir hoch, wenn an solchen Grenzen Anlagen gebaut wurden, die tödliche Schüsse auf jeden auslösen, der in den Gesichtskreis irgendeiner Lichtschranke trat. Mehrere hundert junge Menschen sind an dieser Grenze verblutet.

Und diese Schüsse und diese Minen und diese Anlagen muß ja jemand angeordnet haben. Und da gibt es eine Verantwortung derjenigen, die Macht hatten. Der Nationale Verteidigungsrat mit Erich an der Spitze oder wer immer — Verantwortung, daß so etwas immer wieder passiert ist und nicht abgestellt wurde, wenn sie, die Machthaber, schon bei den ersten Beschlüssen nicht dabei gewesen sein wollen. Und daß Honecker die Macht hatte, den Schießbefehl aussetzen und die Selbstschußgeräte abbauen zu lassen, hat er ja dann bewiesen, als er um Westgeld und Westanerkennung willen den westlichen Forderungen nachgab. Das hätte er spätestens beim Machtantritt tun und dabei an seine eigene Erfahrung mit Häschern und Wärtern und Gestapo denken sollen. Gegen Brutalität in anderen Weltteilen hat er ja oft und laut genug protestiert.

Da kann ich nur alle bitten zu schweigen, die ihn für einen alten Mann halten und ihm seine Verdienste nicht absprechen und deshalb lieber auf dem Altenteil sehen würden. (Die Verantwortung für alles, was an der DDR bösartig, ungerecht und kleinkariert war, ist nicht gerichtsfähig. Das ist wahr. Aber mit einem Urteil sachlich festzustellen, wer an diesen monströsen Zuchthäusern, Schüssen und Tötungsmaschinen schuld war und wer sie hätte abschaffen können, lange lange bevor das Jahr 1989 anbrach — das ist eine gute Aufgabe für ein Gericht in Moabit.) Da war Mord oder Totschlag oder schwere Körperverletzung mit tödlichem Ausgang oder Beihilfe oder Anstiftung oder was immer, da kann auch dem Strafrecht der verblichenen DDR einmal Ehre werden, denn das ließ Menschenrechtsverletzungen auch nicht zu (im Worte). Ob es zu einer Verurteilung kommt und auf wieviele Jahre, das ist mir völlig gleichgültig. Feststellen ist entscheidend. Wenn jeder Eierdieb zur Anzeige gebracht wird, dann kann das Menschenunrecht der DDR nicht einfach schweigend übergangen werden, nur weil es Dringendes zu tun gibt und auch nicht, weil die Großen dieser Welt früher Toastsprüche mit dem Staatsoberhaupt ausgetauscht haben.

Das Dilemma der Richter, die sich auf das positive Recht berufen und sich dabei selbst fesseln, weil sie dann nämlich nach DDR-Recht urteilen müssen, das aber vom Ansatz her diesem Konzept fundamental widersprach, ist offensichtlich. Ihm entspricht der Zwiespalt in der deutschen Bevölkerung. Was will „sie“ eigentlich? Freispruch wie geringfügiges Urteil sind im Emotionsgefüge ebenso unbefriedigend wie eine der politischen Verantwortung angemessene hohe Strafe. Auch das Verbleiben Honeckers im Ausland wäre blamabel gewesen. Alles ist blamabel.

Da ist noch jemand mit einem Dilemma, nämlich Honecker selbst. Wie soll er sich verteidigen? Will er sich als gesetzestreuen Bürokraten darstellen, der menschliche Erleichterungen aushandelte und an der Grenze und in Gefängnissen das pragmatisch für die Friedenssicherung an der Systemgrenze Notwendige tat? Oder übernimmt endlich einmal jemand die Rolle, als Kommunist mit Löwenherz zu seinen Taten zu stehen, weil ein Revolutionär auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, wenn es die Zukunft verlangt? Will er sich weinerlich oder trotzig verteidigen? Wird er geltend machen, daß er sich nach westlicher federfuchserischer Interpretation korrekt an den Buchstaben des DDR- Rechts und der internationalen Konventionen treu gehalten habe, oder wird er dem Gericht beweisen, daß im Marxismus-Leninismus das Recht eine Überbauwaffe der Herrschenden ist und von diesen völlig befreit von Regeln aus der vorigen, der „untergegangenen“ Epoche gestaltet wird? Wird er sich zur stolzen Kommunardenhaltung bekennen: Euer Recht geht mich einen Dreck an, ich habe dem geschichtlichen Fortschritt gedient — ihr aber seid die Protagonisten der Konterrevolution? Macht was ihr wollt mit mir. Wird er ein tragischer Held sein oder ein Feigling?

Die Gerichtsszene gehört in die Dramaturgie der deutschen Theateraufführung für die Welt, die wir in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts inszeniert haben. Ein neues Stück steht bereits auf dem Spielplan. Es wird in Jugoslawien, Irak, Kambodscha, Somalia, Lateinamerika und an anderen Orten spielen. Wir müssen unser Stück zum Ende bringen, es ist Zeit. Jens Reich

Der Autor ist Publizist, Wissenschaftler, ehemals einer der Gründer des Neuen Forum und Abgeordneter der Volkskammer. Er lebt in Berlin.