Rezession stutzt Arbeitszeiten zurecht

Japans Industriearbeiter können aufatmen: Wachstumspause bietet Chance für Überstundenabbau  ■ Aus Tokio Georg Blume

Hat es das schon einmal gegeben, eine arbeitnehmerfreundliche Rezession? Gewöhnlich wird mit einer wirtschaftlichen Talfahrt ein Druck auf die Einkommen und lange Arbeitslosenschlangen assoziiert. Doch in Japan ist alles anders. Seit im letzten Herbst auch in der führenden Industrienation die ökonomische Talfahrt begann, kann ein Großteil der japanischen Industriearbeiter endlich ein bißchen verschnaufen. Denn sie müssen nicht mehr täglich Überstunden schieben.

Für Yozo Itsuki, einen 43jährigen Arbeiter in einer Autozulieferfabrik bei Tokio, liegt die wöchentliche Überstundenzahl heute schon ein Drittel unter dem Durchschnitt. Er selbst ist damit unzufrieden: „Unsere Wirtschaft ist zu schnell gewachsen,“ meint Itsuki, „aber jetzt müssen wir wohl wieder Schweinefleisch statt Rindfleisch essen.“ Itsuki aber ist eine Ausnahme. Die meisten seiner Kollegen verzichten für die neugewonnene Freizeit gerne auf ein bißchen Rindfleisch, das in Japan astronomisch teuer ist. Denn ihre wöchentliche Arbeitszeit samt Überstunden lag bislang meist über 60 Stunden.

Längst ist unter Japans Arbeiterschaft ein Prozeß des Umdenkens angelaufen. Wenngleich von deutschen Freizeitansprüchen noch weit entfernt, würde eine Mehrheit der Japaner heute einer kürzeren Arbeitszeit den Vorzug vor höherer Entlohnung geben. So zumindest sahen es die Umfragen zur Lohnrunde in diesem Frühjahr. Für das arbeitsverliebte Volk ist das ein Trend in eine neue Welt.

Die Regierung möchte dem zuvorkommen. Ihr neuer Fünfjahresplan propagiert ein „Leben mit Spaß“. Erst im Juli hat das Arbeitsministerium Gesetzesänderungen zur Einführung einer 40-Stunden- Woche mit nur fünf Arbeitstagen vorgelegt. Bisher ist die 44-Stunden- Woche in sechs Tagen die gesetzliche Regel.

Neu an diesen großzügigen Freizeitversprechen ist vor allem, daß sie ökonomisch nicht mehr undenkbar erscheinen. Nicht nur, daß die Rezession beim Abbau von Überstunden hilft. Der große Trumpf, den Japans Arbeiterschaft heute ausspielen kann, ist der allgemeine Arbeitskräftemangel. Weil weiterhin Arbeiter gesucht werden, müssen viele Unternehmen zusätzliche Freizeit als Bewerbungsanreiz bieten.

Selbst bei fehlendem Wirtschaftswachstum hat sich in Japan nichts daran geändert, daß auf einen Arbeitssuchenden immer noch 1,2 freie Stellen fallen. Während also die großen Firmen sowieso keine Angestellten entlassen, weil bei ihnen die Lebensarbeitzeit garantiert wird, schrecken heute auch die kleinen und mittleren Firmen, bei denen in der Regel keinerlei Kündigungschutz besteht, vor einem Stellenabbau zurück. Die Unternehmen befürchten, daß ihnen in besseren Zeiten die Arbeitskräfte ausgehen. Denn alle Vorraussagen der Arbeitsmarkt-Experten prophezeien, daß sich am Arbeitskräftemangel in Japan in diesem Jahrhundert nichts ändern wird.

Sorgen dürfen sich die Japaner aber trotzdem machen: Wenn schon nicht um den Arbeitsplatz, dann zumindest um die Rente. Da es eine gesetzliche Rentenversicherung in Japan nicht gibt, haben die meisten Unternehmen in Pensionsfonds investiert, aus denen das Altersauskommen der Angestellten geschöpft wird. Gerade die Pensionsfonds aber haben in der Rezession Federn gelassen. Den Fondmanagern wird nämlich erlaubt, dreißig Prozent der Renteneinlagen in Aktien zu investieren. Da die meisten Pensionsfonds erst während der achtziger Jahre ins Börsengeschäft einstiegen, nehmen sich ihre Verluste heute besonders hoch aus. Die meisten ihrer Aktien sind nun weniger wert als bei ihrem Einkauf.

Beunruhigend für Japans Rentner sind vor allem die langfristigen Aussichten: Schon im Jahr 2010 werden 18 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein, verglichen mit nur 11 Prozent 1990. Kein Wunder also, daß manche es für nötig halten, ihre Rente selbst zu organisieren: Neu im Geschäft sind Seniorenfirmen, die herkömmlichen Unternehmen ihre Beratungsdienste anbieten. Setzt sich dieser Trend durch, könnten in Japan bald auch die Siebzigjährigen wieder in Arbeit stehen.

Nicht einmal die illegalen Gastarbeiter, von denen Japan bereits Hunderttausende zählt, haben in dieser Rezession wegen Arbeitsmangels zu klagen. Da nämlich die Regierung ihr milliardenschweres Konjunkturprogramm zum großen Teil der Bauindustrie zukommen läßt, profitiert damit genau jener Industriezweig, in dem die meisten Ausländer arbeiten. Neu auf dem Arbeitsmarkt ist das Angebot für Gastarbeiter, an einem zweijährigen „Trainingsprogramm“ teilzunehmen. Das verpflichtet sie zwar, nach zwei Jahren in die Heimat zurückzukehren, bietet ihnen aber erstmalig Krankheits- und Unfallschutz.

Trotzdem muß es am Arbeitsmarkt natürlich auch Verlierer geben: Als solche lassen sich derzeit die Studenten ausmachen. Hatten sich die Unternehmen in den letzten Jahren noch um die Universitätsabgänger gerissen, sind die Einstellungsquoten nun doch etwas zurückgegangen. Schon beschweren sich viele Studenten, wenn sie sich bei mehreren Firmen bewerben müssen. Daß sie freilich bis Weihnachten eine Anstellung für den alljährlichen Einstellungstermin am 1. April finden, ist in Japan weiterhin ein Selbstverständlichkeit.