Wo Schultüten wachsen

■ 12500 Erstkläßler strömen heute in Hamburgs Grundschulen / In der Neustadt ernten Kinder Früchte des Zuckertütenbaumes

Für rund 12500 Hamburger ABC-Schützen beginnt heute der Verteilungskampf um die sozialen Chancen. Damit der oft zitierte „Ernst des Lebens“ nicht allzu brutal in die kindliche Lebenswelt einfällt, spenden den Kleinen nach alter Mütter Sitte Schultüten Trost. An der neuen Gesamtschule Neustadt, die von den Eltern hart erkämpft wurde und zum 1. August ihren Betrieb aufnahm, wird die Leckereien-Übergabe diesmal allerdings nicht von den Müttern und Vätern übernommen. Das Hamburger Schulmuseum läßt dort eine alte, fast vergessene Tradition aufleben: den Zuckertütenbaum.

Viertkläßler der Rudolf-Ross- Schule, die zusammen mit der Jan- Valkenburg-Schule künftig die Gesamtschule Neustadt bildet, hatten bereits vor den Sommerferien für die „I-Dötze“ die süßen Überraschungen gebastelt. Für alle AnfängerInnen wird heute an den Zweigen der wundersamen Pflanze eine kleine Schultüte baumeln. Eine alte Lehrerin, hinter deren Maske sich Museums-Mitarbeiterin Marie Teske verbirgt, schneidet diese ab und verteilt sie an die Kinder, die hoffentlich schlau genug sind, um zu ahnen, daß im nächsten Jahr keine solchen ungewöhnlichen Früchte für sie nachgewachsen sind. Früher allerdings schürten die LehrerInnen bewußt diese Hoffnung. Gleichsam wie die Wurst, die dem Hund vor die Nase gehalten wird, um ihn zur Leistung anzutreiben, sahen die Kinder die Zuckertüte vor ihrem geistigen Augen hängen. „Trotz aller Bemühungen gab es im nächsten Jahr keine Schultüte für mich“, erinnert sich eine Hamburgerin an ihre Einschulung um 1920.

Vor rund 100 Jahren tauchten die Tüten-Bäume zum ersten Mal auf. Der Grund war der Einschulungstermin, der um Ostern lag. Liebesäpfel, Zuckerstangen und anderes Schnuckerzeugs erfreuten das Kinderherz. In Kriegszeiten fiel die Zuwendung weniger opulent aus. Da mußten Pellkartoffeln und warme Socken ausreichen. Der Ernst des Lebens bestand nicht nur wie heute aus dem Leistungsprinzip und Disziplinierung, sondern aus Drill und kaum nachvollziehbare Paukerei. „Ich erwartete, daß wir nun mit dem Schreiben beginnen würden. Doch weit gefehlt. Zuerst mußten wir das richtige Aufstehen und Hinsetzen lernen“, beschreibt die spätere Lehrerin Gretchen Müller ihren ersten Schultag 1915.

Das Hamburger Schulmuseum in der Rudolf-Ross-Schule (Poolstraße), beschäftigt sich eigentlich nur nebenbei mit solchen Aktionen wie dem Zuckertütenbaum. Neben einer ständigen Ausstellung, einer Bibilothek und einem Archiv, bieten die sieben MitarbeiterInnen Führungen und Beratungen von PädagogInnen an. Auskunft:352946 oder 345855. Sigrun Nickel