Bé Ruys' Oase der Menschlichkeit

■ Eine der beeindruckendsten Frauen von Berlin: Bé Ruys, Pfarrerin der niederländischen ökumenischen Gemeinde/ In der Nazizeit rettete sie Juden, heute Flüchtlinge/ Im Hendrik-Kraemer-Haus treffen sich Nord und Süd, Ost und West

Dahlem. Wenn sie zur Tür hereinkommt, geht die Sonne auf. Und wer von ihr fortgeht, nimmt immer ein paar Strahlen mit. Bé Ruys, die so frisch und temperamentvoll wie eine 20jährige wirkt, aber in diesem Herbst ihren 75.Geburtstag feiert, ist mit ihrem geradezu übersprudelnden Optimismus eine ganz besondere Frau. »Was ich über Bé denke, kann ich unmöglich in einem Satz zusammenfassen«, sagt Dzemka aus der bosnischen Flüchtlingsfamilie, die Bé in ihrem »Hendrik-Kraemer- Haus« aufgenommen hat, »man müßte einen ganzen Roman über sie schreiben«. Seit 40 Jahren ist Bé Ruys Pastorin der niederländischen ökumenischen Gemeinde und setzt das, was andere nur predigen, jeden Tag praktisch um: die Überzeugung, daß wir in Nord und Süd, West und Ost in einer einzigen Welt leben.

Kein Wunder, daß so jemand ausgerechnet am Tag der russischen Revolution geboren wurde: am 27. Oktober 1917. Getauft wurde die Tochter eines sozial engagierten holländischen Pfarrers auf den Namen Amalie Elisabeth, »aber ich habe immer Bé geheißen«, lacht sie. So fällt es heute niemand mehr auf, daß die Elisabethstraße in ihrem niederländischen Heimatdorf nach ihr benannt ist. Zum Dank dafür, daß »mein Vater, das kleine Pfarrerchen, deutschen Kunstliebhabern Geld für den Bau des dortigen Van-Gogh-Museums gegeben hat.« Doch der Vater starb schon 1925 an Tuberkulose, auch die Mutter wurde krank. Bé lebte bei Verwandten und besuchte oft die Mutter im Sanatorium. »Einmal habe ich auf dem Weg dorthin einen alten Mann Holz hacken sehen. Das war der deutsche Kaiser.« Ihre erste und keineswegs letzte Begegnung mit der Weltgeschichte.

Die Mutter genas und kaufte ein Häuschen, wo Bé, wenn sie in Holland ist, immer noch wohnt. »Zusammen mit einem wunderbaren Surinamer. Sein Bruder ist Adjudant beim Präsidenten von Surinam. ,Ach weißt du, aus meiner Klasse sind nur zwei nicht in der Regierung gewesen', sagte er mir. Und als der Präsident vor ein paar Monaten in Holland war, hat er auch uns besucht.«

Bé Ruys streicht sich über die lockigen Haare und konzentriert sich auf die Chronologie. 1936 schloß sie ihr Abitur ab, 1937 ging sie auf eine Sozialschule in Amsterdam, 1938 begann sie — als einzige Frau unter lauter Männern — Theologie in Utrecht zu studieren. In Amsterdam lernte sie viele Juden kennen, die vor den Nazis geflüchtet waren. »Meine Juden haben alle die deutsche Besatzung ab 1940 überlebt«, sagt sie. Einer von ihnen im Keller ihrer Mutter. Als die Nazis die Stadt Arnhem im September 1944 angesichts der vorrückenden Alliierten evakuierten, überlegte die Mutter, was sie mit all den verräterisch blassen Juden aus den Kellern tun sollte. »Sie schmierte sie einfach mit Amilda Sonnenbräune ein«, lacht Bé.

Auch sie selbst tat, was irgend möglich war. Denn Pfarrer Hendrik Kraemer, nach dem sie später das Haus ihrer Gemeinde benannte, ermahnte immer wieder zum Widerstand. »Ich habe ihn verehrt«, bekennt Bé. Der Missionspfarrer, berühmt geworden durch sein Buch »Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt«, hatte schon in den 20er Jahren zum Dialog mit dem Islam aufgerufen. Im besetzten Holland wurde er ein Jahr inhaftiert, nach Kriegsende war er Mitbegründer des Weltkirchenrates und wirkte als »Guru der Ökumene« in Genf.

Auch die mittlerweile 30jährige Bé war bei dieser Gründung 1948 in Amsterdam dabei: für sie ein Schlüsselerlebnis. »Einer der Referenten war John Foster Dulles, designierter Außenminister der USA, der uns erzählte, der Teufel sitzt im Osten. Für mich war das der Beginn des Kalten Krieges. Aber dann gab es auch noch den Pfarrer Joseph Hromadka aus Prag, der uns eine neue Vision gab. Nicht daß alles toll sei im Osten, aber hier entstehe etwas Neues, sagte er, nicht etwas Altes, das restauriert werden müsse. Das Wort Dialog stammte von Kraemer, doch Hromadka war derjenige, der den Dialog mit dem Marxismus begann.«

Und die »religiöse Sozialistin« Bé war diejenige, die ihn zwischen Ost und West, Nord und Süd fortführte, die die Himmelsrichtungen kreuzte. 1949 kam sie als Jugendarbeits-Abgesandte des Weltkirchenrats ins zerstörte Berlin und hielt ihre erste Predigt am Gründungstag der DDR. Sie kümmerte sich um jene Holländer, die von den Nazis zu Zehntausenden zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt worden waren — allein bei Rheinmetall Borsig in Berlin mußten 200 Studenten in der Rüstungsproduktion schuften — und nun nicht mehr zurück wollten, weil sie in Berlin oder Dresden oder Leipzig eine Familie gegründet hatten. Daneben lernte sie in den Kreisen der progressiven Theologen Hellmut Gollwitzer, Albrecht Schönherr und Kurt Scharf kennen. Als sie und andere Pfarrer nach dem Mauerbau immer wieder verhaftet wurden, weil »wir beim Grenzübertritt die falschen Bücher dabei hatten«, tat sie »den ersten Schritt Richtung Staat« und ließ ihre niederländische ökumenische Gemeinde beim DDR-Staatssekretariat für Kirchenfragen akkreditieren. »Natürlich wurden wir von beiden Seiten beobachtet«, lacht sie und schüttelt ihre Locken, »aber die CIA war viel klüger als die armen Stasi-Kinderchen.«

1968, im Jahr der Revolte, weitete sich der Dialog noch mehr aus. Zusammen mit Rudi Dutschke und seinem Sohn Hosea Che fuhr sie zu einer Tagung in den Prager Frühling. »Es gab enorme Diskussionen über die Dritte Welt. Die armen Tschechen, abgeschlossen von der Welt, hatten doch behauptet, die Schwarzen sitzen nur in goldenen Betten.« Doch die Panzer aus Moskau wälzten wenig später alle neuen Ansätze nieder und spalteten auch die christliche Friedensbewegung. »Uns hat es ebenfalls zerrissen, ich bin ein Jahr lang nicht mehr nach drüben.«

1976 kam Claus Hebler ins Hendrik-Kraemer-Haus und brachte den Dialoggedanken, wie Bé sagt, »auf ein höheres intellektuelles Niveau«. Gleichzeitig kümmerte er sich als Pfarrer der Kranken, Obdachlosen, Gefangenen und Flüchtlinge bewußt um die Niedrigsten. »Im März 1980«, erzählt seine Weggefährtin, »haben wir hier den ersten Flüchtling aufgenommen, einen Türken. Übrigens war er gestern abend hier.«

Was Wunder. Wer einmal in dieser Oase der Menschlichkeit war, muß einfach wiederkommen. Ob sie aus Chile oder Sri Lanka, den Philippinen oder der Ex-Sowjetunion kamen, Bé hat unzähligen Flüchtlingen geholfen, sie vorübergehend aufgenommen, »Erste Lebenshilfe« geleistet. Bis heute begegnet sich im Hendrik-Kraemer-Haus die ganze Welt.

Und sie selbst begegnete der Welt, als sie über den Weltkirchenrat all die klassischen Flüchtlingsländer bereiste, Indien oder Peru und Chile.

Dann kam die Wende und der Mauerfall. Einen Tag später wurde Claus Hebler 50 Jahre alt, wieder einen Tag später starb er. »Diese Tage werde ich nie vergessen«, sagt sie. »Und die Mauer — ich trauere ihr nicht nach, aber danach folgte so viel Schlechtes: der Rassismus, der Nationalismus in Osteuropa.« Aber sie hieße nicht Bé, wenn sie nicht auch immer positive Seiten entdecken würde. Der Dialog zwischen Christen und Marxisten, findet sie, sei jetzt »viel ernster und ehrlicher«: »Beide Gruppen sind machtlos.«

Die verschiedenen Kirchen, die das Hendrik-Kraemer-Haus bisher finanzierten, sehen das allerdings anders. Als der Ost-West-Konflikt von der Bildfläche in den Untergrund verschwand, stellten sie ihre Zuschüsse für den langjährigen Ost- West-Dialog fast gänzlich ein, so daß die weitere Arbeit im Haus jetzt ernsthaft gefährdet ist. Bé hofft nun, über den »Verein der Freunde des Hendrik-Kraemer-Hauses« so viel Spenden sammeln zu können, daß ein Stiftungsfonds gebildet und die jährliche Miete von rund 60.000 Mark aufgebracht werden kann. Und deswegen schließt dieser Artikel mit dem schnöden Verweis auf ein Spendenkonto, damit Bé Ruys' Oase der Menschlichkeit weiter bestehen kann. Ute Scheub

Verein der Freunde des Hendrik- Kraemer-Hausese.V., Berliner Bank, Ktonr.25409 33681, BLZ 100 200 00, Kennwort Stiftung.