Rettungsanker für wenige Auserwählte

■ Eigentlich waren die Hilfsgüter für somalische Flücht-linge vorgesehen. Doch die drängende Situation auf dem Balkan hat die Organisation "Cap Anamur" zu einem Abstecher an die Küste Kroatiens veranlaßt

Rettungsanker für wenige Auserwählte Eigentlich waren die Hilfsgüter für somalische Flüchtlinge vorgesehen. Doch die drängende Situation auf dem Balkan hat die Organisation „Cap Anamur“ zu einem Abstecher an die Küste Kroatiens veranlaßt. Für 350 Flüchtlinge war das Schiff im Hafen von Split die ersehnte Erlösung.

AUS SPLIT THOMAS SCHMID

Ein defektes Ventil mußte unterwegs ausgewechselt werden. Aber es war vor allem den Stürmen in der Biskaya geschuldet, daß die „Cap Anamur“ erst am Samstag mittag mit viertägiger Verspätung im Adriahafen von Split einlief. Doch Peter Rothenpieler, Sohn des Hamburger Reeders, bei dem das Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e. V. den Kahn gechartert hat, gibt sich optimistisch. Die 300 Tonnen Nahrungsmittel — Mehl, Zucker, Reis, Pflanzenöl und Bohnen — könne man am Nachmittag noch ausladen, rechnet er in seiner Kajüte Rudi Bauer, einem pensionierten Arzt der Hilfsorganisation, und dem Medizinstudenten Michael Tiemann vor. Und am Sonntag könne man dann die Flüchtlinge an Bord nehmen. In zwölf Tagen werde man vermutlich in Bremerhaven einlaufen — so Gott und die Biskaya es wollen.

Während der rote Kahn noch im Hafen der Stadt an der kroatischen Küste dümpelt, warten zwei Autostunden entfernt, drei Kilometer hinter der Grenze, in Posusje, einer Kleinstadt im Südwesten der Republik Bosnien-Herzegowina, 275 Menschen auf die Nachricht, daß das Schiff tatsächlich angekommen ist. Seit Tagen halten sie sich — wie 75 weitere Flüchtlinge in Mostar — für die Abfahrt bereit — für die Fahrt nach Deutschland.

Über 2.000 bosnische Flüchtlinge, fast ausschließlich Muslime, lagern in Posusje im Park oder in einem Schulgebäude; 350 von ihnen sind — nach welchen Kriterien auch immer — ausgewählt worden. Sie stehen auf der Passagierliste. Die übrigen werden bis auf weiteres in der stickigen Enge des Schulgebäudes oder im anliegenden Park schlafen. Es ist geballtes Elend: verzweifelte Menschen, die nicht wissen, wie es weitergeht, immer wieder weinende Frauen, die verlorenen Männern und Söhnen nachtrauern, wimmernde Kleinkinder und kaum Wasser. Posusje ist das einzige Städtchen im ganzen Bezirk, das nicht an einem Fluß liegt. „Posusje“ heißt auf deutsch „trocken“. Die Flüchtlinge stehen mit Plastikeimern am Tankwagen um ein paar Liter Trinkwasser an. Aber immerhin gibt es, dank verschiedener Hilfsorganisationen, genug zu essen.

Muslime beweinen ihre Toten nicht...

In den Schulzimmern spielen Kinder zwischen kochenden Müttern und alten Männern, die vor sich hindösen. Der Boden ist mit farbigen Tüchern und Decken ausgelegt. Es muffelt nach Schweiß und Urin. Irgendwo sitzen vier Kinder mit halb verbranntem Körper — Napalm, sagen die Leute. Und im oberen Stockwerk ist vor sechs Stunden jemand gestorben. Noch immer liegt er da in Decken gehüllt. Es ist der 79jährige Osman Petrovac. Die Witwe sitzt schweigend neben dem Toten. Sie weint nicht. Später erläutert mir Jerko Orec, Französischlehrer in Posusje, daß Muslime ihre Toten nicht beweinen. Mag sein. Doch vielleicht sind der alten Frau einfach die Tränendrüsen vertrocknet.

Neben den über 2.000 lagernden Flüchtlingen sind knapp weitere 2.000 bei Familien untergekommen. Und es werden täglich mehr. Kurz vor Mitternacht sind gestern 120 aus Prijedor, einer Stadt in der serbisch kontrollierten bosnischen Krajina, angekommen. Safet Kasumovic hat sie persönlich in zwei Bussen herkutschiert. Seit zwei Monaten waren sie in Nordbosnien umhergeirrt, waren dann von serbischen Freischärlern aufgegriffen und nach Han Bila bei Travnik gebracht worden. Von dort hat sie Kasumovic in zehnstündiger Fahrt nach Posusje gebracht. Eigentlich wollte er sie nach Zagreb bringen. Doch drei Kilometer hinter Posusje, an der Grenze zwischen den beiden unabhängigen Staaten Kroatien und Bosnien-Herzegowina, ließ ihn die HVO, die militärische Organisation der Kroaten in der westlichen Herzegowina, nicht durch. Die beiden Busse wurden kurzerhand beschlagnahmt. Der Mann ist empört. Er zeigt auf die Listen, in denen die Namen seiner 120 Flüchtlinge und die ihrer Verwandten in Deutschland registriert sind, die ihnen morgen nach Zagreb entgegenreisen. So gehen wir gemeinsam zum Kommando der HVO, um Gerechtigkeit oder zumindest Rechenschaft zu fordern.

Dort ist die Stimmung gereizt, der Ton aggressiv. „Mafia“, erklärt mir schließlich ein Offizier mit einer Handbewegung, wie sie üblich ist, wenn man etwas klandestin in die eigene Tasche befördert. Kasumovic will nun plötzlich gehen. Nur umgerechnet 20 Mark habe er gefordert, beichtet er. Ein Spottpreis für eine Reise aus der Hölle, doch immerhin hat ihm der Coup 2.400 Mark, ein Jahresverdienst, eingebracht. Ein Schlepper? Ein Menschenschmuggler? Umgerechnet zehn Mark hätte die Reise auch zu normalen Zeiten gekostet.

Alle wollen ihre Geschichte und Geschichten loswerden in Posusje. Verständlich. Weiß denn überhaupt jemand in der Welt draußen, was ihnen widerfahren ist und daß sie hier festsitzen? Die Berichte dieser Menschen sind grauenhaft. Im einzelnen oft nicht ganz schlüssig, weil sie — bei Nachfrage — mitunter doch auf Hörensagen beruhen.

Arbeitsunfähige Männer im Lager verhungert

Aber allzuviel stimmt überein, allzuviel wird präzise geschildert, allzuviel wurde offensichtlich selbst erlebt, als daß noch ein Zweifel an der Existenz jener schrecklichen Lager, in denen Menschen festgehalten werden, aufkommen könnte. Die Orte des Verbrechens heißen Maniaca, Omarska, Drnopolje, Prijedor. In der Keramikfabrik „Keroterm“ von Prijedor, erzählt Süleyman Memic aus Kozarac, geboren 1928, würden 3.000 junge Männer gefangengehalten. Sie würden übel mißhandelt, erzählt der Mann, der selbst 15 Tage dort verbracht hat und vor drei Wochen aufgrund seines Alters freigelassen wurde. Sein 19jähriger Sohn Nihad sei immer noch dort. Der 17jährige Edin Terzic kann es bestätigen. Er sei mit Gummiknüppeln und Baseballschlägern traktiert worden und habe vom 12. Juni bis zum 21. Juli sechs Wochen lang ohne Decke auf dem Beton geschlafen, bis er schließlich aufgrund seiner Minderjährigkeit freikam.

20 Männer seien in dieser Zeit von Tschetniks erschlagen worden, weil sie mit Waffen aufgegriffen worden seien — die ihnen aber die Serben vorher verkauft hätten. Der Maurer Ramiz Alagic, geboren 1953, hat zwei Söhne, im Alter von 20 und 18 Jahren, die seit nunmehr über zwei Monaten im Gefangenenlager von Maniaca schmachten. Muharem Jakupovic hat eine Tochter und zwei Enkel — acht und zwei Jahre alt — im Lager von Drnopolje. Der 15jährige Emir Hadzic berichtet, sein Vater, ein Ex-Kommandant der bosnischen Streitkräfte, sitze im Lager von Omorska. Dort müßten die gesunden Gefangenen im Kohlebergwerk Frondienst leisten. Einige alte arbeitsunfähige Männer habe man einfach verhungern lassen.

Aussage über Aussage, aber die Menschen haben keine Beweise. Die Zeugen sind ihre Verwandten, ihre Freunde. Fotos legen sie keine vor. Aber wer all das Elend der Flüchtlinge in Posusje, wer die Gesichter dieser Menschen gesehen hat, weiß, daß die Lager keine Erfindungen sind — was sich nach den Berichten Ende vergangener Woche ja auch bestätigt hat.

Sonntag, gegen 14.00 Uhr nachmittags. Im Hafen von Split werden die letzten Paletten mit Hilfsgütern gelöscht. Aber statt die Waren direkt auf die Laster zu laden, werden die 300 Tonnen Reis, Mehl, Zucker, Öl und Bohnen in einer Halle zwischengelagert. Um sie von dort wieder freizukriegen, bedarf es offenbar eines beachtlichen bürokratischen Aufwandes. Doch das läßt sich später regeln. Rupert Neudeck, Präsident von „Cap Anamur“, wird also zurückbleiben. Das wichtigste ist nun, daß die 350 Flüchtlinge, die aus Posusje und Mostar bereits losgefahren sind und deren Ankunft hier im Hafen minütlich erwartet wird, möglichst schnell aufs Schiff kommen. Sie sollen noch heute in See stechen— für die meisten von ihnen die erste Auslandsreise ihres Lebens.