„Gefangene des Zaren“

■ Moskauer Verlag gab das Tagebuch des Kriegsgefangenen Otto Stern heraus

In kleiner Auflage gab das ökonomische Ostzentrum des internationalen Fonds „Ewige Erinnerung den Soldaten“ in Moskau „Das Tagebuch des Otto Stern 1914-1918 — Gefangene des Zaren“ heraus. Die Leser in der ehemaligen Sowjetunion bekommen ein Dokument jener Zeit, in der nicht nur in Rußland viele politische und wirtschaftliche Umwälzungen stattgefunden haben. Es ist durch die unmittelbare Nähe zum Geschehen ein sehr persönlicher und damit besonders authentischer Bericht eines einfachen Soldaten.

Noch vor einigen Jahren wäre die Erscheinung dieses Buches undenkbar gewesen. Bislang waren solche Themen im sowjetischen Verlagswesen tabu. Gerade für den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion ist dieses Tagebuch interessant. Das Tagebuch aus dem ersten Weltkrieg entspricht nämlich keineswegs den Klischeevorstellungen vom Kriege, schon gar nicht der jahrzehntelang gepflegten Glorifizierung der Bolschewiki und der Propaganda von angeblichen Greueltaten der jeweils anderen Seite. Otto Stern lebte zuletzt gar nicht wie ein Gefangener, sondern teilte die kleinen Freiheiten und großen Nöte der armen russischen Bevölkerung am Ende der Zarenherrschaft. Die Tagebuch- Eintragungen haben ganz große und ganz kleine Begebenheiten zum Gegenstand: die erste Feldlerche, Beginn der Hungersnot, Kleiderspenden aus Deutschland, Schachteinstürze, Nachtfröste, Revolution in Petrograd, Arbeiter kontra Kosaken, und immer wieder: Lebensmittelpreise.

Die wirtschaftliche Katastrophe mündete in zwei Revolutionen während eines Jahrs: Die Februar-Revolution 1917 beseitigte die Zarenherrschaft, die Oktoberrevolution brachte Lenin und die Bolschewiki an die Macht. Otto Stern erlebte beides aus der Froschperspektive, weit weg von der damaligen Hauptstadt Petrograd, die später Leningrad hieß und heute ihren traditionellen Namen St. Petersburg trägt. Das Tagebuch wurde vom Sohn, Volker- Joachim Stern, heute Mitarbeiter der Bremer Senatspressestelle, sorgfältig aufbewahrt und zum 100. Geburtstag seines Vaters in Edition Temmen herausgegeben.

Walentina Rogall, Übersetzerin

des Tagebuchs ins Russische

„Gefangene des Zaren“, Das Tagebuch des Otto Stern 1914-1918, Edition Temmen, Bremen, 1991, ISBN 3-926958-74-X