Mauer mit Schießbefehl?

■ Die Festung Europa muß geschleift werden

Europäische Rindfleischkontingente und Milchquoten ja, Flüchtlinge nein.

Diese Botschaft der EG in diesen Tagen kann im Sinne des viel strapazierten europäischen Geistes kaum identitäts- und friedensstiftend wirken. Die jetzt unterlassene Hilfeleistung wird sich bitter rächen. Das Flüchtlingsproblem wird auch Westeuropa noch beuteln, vielleicht sogar überrollen. Aussitzen wird weder jetzt noch später helfen. Von den Asylsuchenden in Deutschland kommen mehr als 70Prozent aus dem Osten. Ein Ende der Wanderungsbewegung ist nicht in Sicht. Die Menschen werden weiter fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger, Armut und ökologischen Katastrophen. Was könnte sie aufhalten? Eine Mauer mit Schießbefehl?

In Deutschland wird es um so schwieriger werden, eine humane Flüchtlingspolitik durchzusetzen, je mehr andere Staaten dichtmachen. Sie ist letztlich auch nicht gegen den Widerstand der ansässigen Bevölkerung möglich. In Hessen und anderswo werden heutzutage schon Bauplätze besetzt, um die Unterbringung von Flüchtlingen zu verhindern. Deshalb muß ein umfassender, akzeptanzschaffender Aufklärungsprozeß in Gang gesetzt werden. Nicht zuletzt ist hier die deutsche und europäische Friedensbewegung gefordert.

Westeuropa wird sich dazu bekennen müssen, daß die Aufnahme von Flüchtlingen eine „Regelaufgabe“ wird, genauso planmäßig und mit Engagement betrieben wie die Ordnung des europäischen Marktes, in dem Fleisch- und Milchquoten nicht nur beschlossen, sondern auch durchgesetzt werden. Nur durch die Stärkung ihrer demokratischen Legitimation kann die EG für die Menschen in Europa durchschaubar und glaubhaft werden. Nur so werden die Menschen die Idee von Europa begreifen und leben, eine Idee, die ja ursprünglich bedeutete: Grenzen zu überwinden, unterschiedliche Kulturen und Nationalitäten zusammenzubringen. Europa in diesem Sinne hat nur eine Chance, wenn es zur Bekämpfung der Fluchtursachen mit dem Aufbau einer gerechten Wirtschaftsordnung beginnt, die — und dies muß klar gesagt werden — nur mit Teilen und Verzicht auf immer mehr Wohlstand realisiert werden kann.

Unabdingbar ist ein europäisches Asylrecht mit der Genfer Flüchtlingskonvention als Maßstab, mit einer Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs und mit rechtsstaatlichen Verfahren. Europa muß den ZuwanderInnen eine Chance und gesicherte Perspektiven mit allen bürgerlichen Rechten bieten. Schließlich leben in der EG viele (Arbeits-)ImmigrantInnen und Flüchtlinge. Und die Volkswirtschaften der Staaten brauchen sie. Die europaweite rechtliche und politische Gleichstellung von ZuwanderInnen mit EG-BürgerInnen ist die Voraussetzung, um Ausländerfeindlichkeit und Fremdenangst zu überwinden. Ohne diese Integration wird auch eine EG der harten Währung nicht viel wert sein. Iris Blaul

Die Autorin ist als Familienministerin der Rot-Grünen Regierung in Hessen zuständig für die Unterbringung von Flüchtlingen.