INTERVIEW
: „Schon wieder kein Russe gekommen“

■ Wohlstandsmauer statt Eiserner Vorhang: Die befürchtete Völkerwanderung findet nicht statt/ Interview mit dem Leiter des Instituts für Demographie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Rainer Münz

taz: Wann wird Westeuropa von der oft angekündigten Immigrationswelle aus dem Osten überschwemmt werden?

Münz: Meiner Meinung nach wird Westeuropa überhaupt nicht überschwemmt werden. Das Schicksal der Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen aus Bosnien macht deutlich, daß sich der Westen auch ohne Eisernen Vorhang recht wirkungsvoll abschotten kann. Selbst die Genfer Konvention wird von uns so restriktiv ausgelegt, daß jene, die heute in Europa am dringendsten Schutz vor Verfolgung bräuchten, bei uns kaum noch eine Chance auf Zuflucht haben. Angeblich sind schon genug andere da. Wir dürfen aber nicht übersehen: Jene BosnierInnen, die heute an unseren Grenzen abgewiesen werden, sind nicht einfach in den Westen aufgebrochen. Sie wurden mit brachialer Gewalt vertrieben. Es handelt sich dabei um die größte europäische Flüchtlingstragödie seit 1946/47. Im Gegensatz dazu steht uns aus den anderen Ländern Ost-Mitteleuropas und des Balkans wohl keine Völkerwanderung ähnlicher Größe ins Haus.

Mit dieser Ansicht stehen Sie ziemlich alleine. Selbst das Meinungsforschungsteam der EG „Eurobarometer“ kam bei einer seiner jüngsten Umfragen in zehn Staaten zu dem Schluß, daß 13 Millionen Bewohner aus osteuropäischen Ländern die Absicht haben, in den Westen zu emigrieren oder zumindest längere Zeit dort zu arbeiten.

Ich habe schon mehrere Umfragen gesehen, die auf Grund ihrer unpräzisen Fragestellung ganz automatisch zu alarmierenden Ergebnissen kommen mußten. Auf die naive Frage „Haben Sie jemals daran gedacht, ihr Land zu verlassen?“ würden auch die meisten Leute in Westeuropa mit Ja antworten. Das heißt noch lange nicht, daß er oder sie wirklich auswandert.

Gut, mißtrauen wir den Millionenjongleuren aus der Umfragebranche. Wenden wir uns jenen Methoden zu, die zu verläßlicheren Prognosen führen...

Ich glaube, mal sollte primär versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen. Es gab nämlich in den letzten vier Jahrzehnten, das heißt seit 1950, trotz des Eisernen Vorhangs eine ganz beträchtliche Ost-West-Wanderung. Insgesamt gingen in diesem Zeitraum zwölf Millionen Menschen aus der östlichen Hälfte Europas in den Westen. Davon landeten acht Millionen in der Bundesrepublik, ca. 700.000 in Israel, weitere 700.000 in der Türkei und über 400.000 in den USA.

Damit ist gesagt, wer die kommunistischen Staaten verlassen hat: Das waren primär Volksdeutsche aus Polen, Rumänien und der damaligen Sowjetunion, Juden ebenfalls aus Polen und der UdSSR sowie die Moslems aus Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien.

Richtig. Es handelte sich vorwiegend um Angehörige ethnischer Minderheiten und um privilegierte Auswanderer, denen aktive Hilfe aus dem Westen zuteil wurde. Die USA und Israel ermöglichten den Exodus sowjetischer Juden; die Bundesrepublik ließ sich die „Heimkehr“ der Banater Schwaben, der Siebenbürger Sachsen, der polnisch-deutschen Spätaussiedler und der Rußland- Deutschen eine Menge an Kopfgeld und Starthilfe kosten. Fast niemand emigrierte spontan und auf eigenes Risiko.

Wie denn auch? Der Normalbürger des sowjetischen Imperiums saß in der Regel wie ein Gefangener hinter dem Eisernen Vorhang fest.

Seit 1989 gibt es den Eisernen Vorhang nicht mehr. Die mittel- und osteuropäischen NormalbürgerInnen können sich nun relativ problemlos einen Paß besorgen. Wer reisen will, muß lediglich finanzielle und bürokratische Hindernisse überwinden. Dennoch hält sich die spontane Emigration in äußerst bescheidenen Grenzen.

Tatsächlich? Laut Statistik wanderten 1989 immerhin rund 1,2 Millionen Osteuropäer westwärts, 1990 nochmals 1,2 Millionen. Das sind keineswegs bescheidene Kontingente...

Stimmt. Aber die westlichen Regierungen, die häufig vor zu vielen Immigranten warnen, verschweigen geflissentlich, daß die Zuwanderung der Jahre 1989 bis 1991 zu 80 Prozent zwischenstaatlich organisiert war. Auswanderungswillige DDR-BürgerInnen wurden 1989 mit offenen Armen empfangen. Auch jene 400.000 Juden, die in den letzten eineinhalb Jahren aus der Sowjetunion respektive den GUS-Staaten nach Israel emigrierten, wären bestimmt nicht spontan gekommen, ohne parat stehende Charterflugzeuge, ohne Geld, ohne Aussicht auf eine Wohnung. Dasselbe gilt für die volksdeutschen Auswanderer.

Sind die Zahlen für 1991 bereits bekannt?

1991 gab es schon weniger Ost-West-Wanderer als 1989 und 1990. Und dies, obwohl 1991 seitens Österreichs, der Schweiz und Deutschlands die Visumpflicht für Polen aufgehoben wurde...

... worauf ganze Chöre von Kassandras auftraten und vor einem Polen-Sturm warnten.

Der befürchtete Polen-Sturm blieb aus, genauso wie schon vorher der Ungarn-, Tschechen- und Slowaken-Sturm ausgeblieben war. Ohne massive Vertreibung und Greuel gegenüber der nicht-serbischen Zivilbevölkerung gäbe es derzeit auch keinen „großen Treck“ aus Bosnien. Daß relativ offene Grenzen noch keine Massenimmigration auslösen, ist eine Erfahrung der letzten 25 Jahre. Wir haben ja innerhalb Westeuropas gesehen, daß Unterschiede im Lohn- und Lebensniveau nicht notwendigerweise zur Massenwanderung führen. Als die vergleichsweise armen Portugiesen, Spanier und Griechen der EG beitraten und das Zuzugsrecht in das reiche Deutschland erwarben, setzten sich auch keine Millionen in Bewegung.

Sind Sie so sicher, daß besagte Polen, Tschechen, Ungarn nicht doch eines Tages kommen, wenn die Arbeitslosigkeit weiter steigt und der Lebensstandard weiter sinkt?

Denken Sie an weite Teile Afrikas. Auch dort harren die meisten Menschen aus, obwohl in manchen Regionen blanke Not herrscht. Oder denken Sie an Kroatien. Dort gab es Krieg, zerstörte Städte. Eine massenhafte Absetzbewegung nach Westeuropa hat aber nicht stattgefunden.

Was in der Tat erstaunt, weil seit langem Hunderttausende jugoslawische Gastarbeiter im Westen sind und gut funktionierende Auffangnetze für Kriegsflüchtlinge bilden könnten.

Der üppig wuchernde Nationalismus unserer Tage hat neben seinen häßlichen Seiten auch den Effekt, die Abwanderung zu bremsen. Es befriedigt sehr viele, endlich als Nation in der Welt Geltung zu finden. Solche Bedürfnisse sind durchaus vergleichbar mit mit den nationalromantischen Einigungsbewegungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Italien.

Erwarten Sie also, daß die Ost-West-Wanderung völlig zum Stillstand kommt?

Nein, ich erwarte aber, daß ihre Intensität eher nachlassen wird. Ausschlaggebend scheinen mir dafür drei Hauptgründe. Erstens die erwähnte relativ geringe Bereitschaft zur spontanen Auswanderung. Zweitens ein Ende der Auswanderung jener ethnischen Gruppen, die über einen gut funktionierenden Brückenkopf im Westen verfügen. In Rumänien zum Beispiel gibt es nur noch um die 50.000 Sachsen und Schwaben. Alle anderen wohnen bereits in Deutschland.

Und drittens?

Drittens das abweisende Verhalten des Westens, der anstelle des Eisernen Vorhangs eine Wohlstandsmauer errichtet hat. Dies zeigt nicht erst die Zurückhaltung bei der Aufnahme bosnischer Flüchtlinge. Wie deutlich der Westen seine Abwehrsignale zu senden vermag, hatte die italienische Regierung bereits im Sommer 1991 im Umgang mit den albanischen Flüchtlingen gezeigt.

Und dieses Abschreckungssignal ist im Osten allgemein verstanden worden?

Verstanden ist das falsche Wort. Wie soll ein Osteuropäer verstehen, daß ihn plötzlich niemand mehr haben will, obwohl ihm die westlichen Medien 40 Jahre lang versichert haben, daß er in der sogenannten freien Welt willkommen wäre? Anders konnte das Insistieren der westlichen Staaten auf mehr Reise- und Auswanderungsfreiheit für die BürgerInnen kommunistischer Staaten nicht verstanden werden. Heute tun wir so, als wäre es uns damals bloß um schönere Urlaubsziele für OsteuropäerInnen gegangen.

Wer wird trotz allem noch kommen?

Wahrscheinlich wird ein Gutteil der vielleicht noch zwei bis drei Millionen jüdische BürgerInnen kommen, die in den GUS-Staaten leben; sicherlich auch ein Teil der etwa zwei Millionen Rußlanddeutschen, sofern es ihnen nicht gelingt, sich ein autonomes Gebiet zu verschaffen.

Und sonst?

Sonst werden ein paar Zehntausende oder meinetwegen auch Hunderttausende Arbeitssuchende aus den traditionellen osteuropäischen Auswandererländern komme, die sich darauf verlassen können, in der Fremde ein Auffangnetz unter bereits zugewanderten Landsleuten zu finden. Kommen werden auch Tausende hochqualifizierte Akademiker, denen der Westen Jobs anbieten wird. Kommen werden schließlich Opfer ethnischer Konflikte, sofern wir sie einreisen lassen. Alles in allem werden es bis zum Jahre 2000 keine 13 Millionen sein, wie „Eurobarometer“ prognostiziert. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß der Westen eines Tages von sich aus weiteren Nachschub aus dem Osten rekrutieren wird.

Weil er zusätzliche Arbeitskräfte braucht?

Ja. Längerfristig wird unsere Wirtschaft, wird unser System der Rentenversicherung mit der eigenen alternden und schrumpfenden Bevölkerung nicht problemlos weiterfunktionieren.

Nehmen wir an, Sie hätten mit Ihrer Analyse recht. Warum wird dann aber die Mär von der bevorstehenden Völkerwanderung unverdrossen aufrechterhalten?

Die Mär dient den Medien — „Zehn Millionen Russen vor der Tür“ ist eine gute Schlagzeile, „Schon wieder kein Russe gekommen“, ist unverkäuflich. Die Mär dient etlichen westeuropäischen Parteien, die erkannt haben, daß sich aus der Angst vor Ausländern politisches Kapital schlagen läßt. Und last, not least dient die Mär auch so mancher osteuropäischer Regierung. Für die ist die stete Drohung mit einem Massenexodus oft das einzig wirksame Mittel, um mehr westliche Hilfe zu bekommen. Interview: Inge Santner

Inge Santner ist Korrespondentin der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche in Wien