Flüchtlinge gefährden Binnenmarkt

Nationale Sonderinteressen behindern Harmonisierung der EG-Abwehrstrategien gegen Asylbewerber und Flüchtlinge  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Sie heißen illegale Zuwanderer, Asylbewerber, Flüchtlinge und haben eines gemeinsam: Sie sind nirgendwo willkommen, schon gar nicht in den reichen Ländern Europas. 35 Millionen sind weltweit auf der Flucht.

Nur ein Bruchteil davon schafft es zum angeblichen Hort der Freiheit, der EG, und die wenigsten dürfen bleiben. Mit der Zahl der Asylsuchenden, so die für viele schmerzliche Erfahrung, wächst auch die Zahl der Ablehnungen: 1986 wurden in der Bundesrepublik immerhin noch 16 Prozent aller Anträge bewilligt, 1990 waren es nur noch 4,4 Prozent. Ähnlich verhalten sich die anderen Mitgliedstaaten. 345 Millionen Menschen leben schließlich schon in der EG. Davon sind acht Millionen Ausländer, die in der Gemeinschaft lebenden BürgerInnen von OECD- Ländern wie Schweden, Österreich und den USA miteingeschlossen. Flüchtlinge — legale wie illegale — fallen dabei kaum ins Gewicht — sie machen noch nicht einmal zwei Millionen oder 0,6 Prozent der EG-BewohnerInnen aus.

Allerdings werden die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich frequentiert: Während jeweils 12.530 PortugiesInnen lediglich einen Asylsuchenden beherbergen, gibt es in Deutschland immerhin 520, in Frankreich 289 und in Dänemark 154 BürgerInnen pro Flüchtling. Fast 34 Prozent der Asylsuchenden in der EG haben in Frankreich Aufnahme gefunden, knappe 27 Prozent in Deutschland und etwa 17 Prozent in England. Dafür sollen sich aber zur Zeit in Deutschland eine halbe Million Menschen illegal aufhalten. Allein im letzten Jahr kamen angeblich 40.000 illegale Zuwanderer über die „grüne Grenze“ zu Polen und der CSFR.

Diese unterschiedliche Belastung entsprechend unterschiedlicher Asyl- und Einwandererpolitik der Mitgliedstaaten ist den EG-Strategen in Brüssel ein Dorn im Auge. Denn dadurch werde der für Ende des Jahres angestrebte Binnenmarkt behindert. Einmal im grenzenlosen Europa angelangt, könnten die Flüchtlinge schließlich nach Lust und Laune herumreisen. Um diesen Alptraum der Innenminister zu verhindern, soll die Flüchtlings- und Asylpolitik über die EG hinaus harmonisiert werden.

Dieses Ansinnen bedeute eine zusätzliche Behinderung für die Flüchtlinge, kritisieren die Eurogrünen. Das Schengener Abkommen, dem inzwischen acht der 12 EG-Staaten beigetreten sind, sehe zum Beispiel vor, daß künftig nur noch ein Staat für einen Asylantrag zuständig ist. Dessen Entscheidung sei dann auch für die anderen Schengen-Staaten bindend.

Das Abkommen diene nicht nur als Modell für die EG, sondern für den größeren Teil Europas. Es soll auf Österreich, die Schweiz und einige mitteleuropäische Länder wie Polen ausgeweitet werden. Nationale Sonderinteressen verhinderten allerdings bislang eine endgültige Einigung. Das 1985 in dem Luxemburger Grenzort Schengen vereinbarte und 1990 von den Gründerstaaten unterzeichnete Abkommen muß noch von den Parlamenten einiger Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik ratifiziert werden.

Wie groß aber die Widerstände vor allem der Regierungen gegen eine harmonisierte Asylpolitik sind, zeigte sich bei den Verhandlungen über den Maastrichter Vertrag letzten Dezember. Darin wurde eine Vereinheitlichung der Asylverfahrenspraxis ausdrücklich als „nicht vorrangig“ bezeichnet. Es sollen nur gewisse Elemente der Einwanderungspolitik wie Familienzusammenführung oder Deckung des Arbeitskräftebedarfs sowie die Bekämpfung von „illegaler Einwanderung“ und Schwarzarbeit möglichst ab Anfang nächsten Jahres unter der Ägide der EG abgewickelt werden. Im übrigen bleibt es vorerst bei einer losen Zusammenarbeit der Regierungen. Was davon zu halten ist, zeigt das Beispiel Jugoslawien: Während Deutschland seit Beginn des Krieges über 200.000 Flüchtlinge aus dem Gebiet aufgenommen hat (in den letzten Wochen waren es noch einmal ca. 10.000), fanden in Frankreich und Großbritannien lediglich jeweils über 1.000 Zuflucht. In Paris und London, aber auch in den meisten anderen Hauptstädten der EG unterstützt man lieber die Einrichtung von Flüchtlingslagern in sicheren Regionen des ehemaligen Jugoslawiens.

Die Flüchtlingslast alleine Deutschland zu überlassen, so Bundeskanzler Kohl, ginge aber nicht an. Seine Vorhaltungen verhallten bislang jedoch genauso ungehört wie sein Appell, die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EG müßte baldigst harmonisiert werden. In den anderen Ländern ist man schließlich mit der Rolle der Bundesrepublik als Auffangpuffer für die Flüchtlinge aus dem Osten bislang ganz gut gefahren.