INTERVIEW
: „Wir produzieren laufend Krankheitsformeln, die sich abrechnen lassen“

■ Ellis E. Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, plädiert für die Aufgabe des jetzigen Honorarsystems und fordert an Stelle dessen einen Stundenlohn für Ärzte und Pauschalhonorare

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Ärzteorganisation Hartmannbund jaulten auf, als sie von den Sparplänen Horst Seehofers hörten. Ein geschlossener Protest der Ärzteschaft? Die Berliner Ärztekammer und ihr Präsident Ellis E. Huber sind da anderer Meinung.

taz: Was halten Sie, was hält die Berliner Ärztekammer von der neuen Gesundheitsreform?

Ellis Huber: Der Gesundheitsminister zeigt sich hilflos, die wirklichen Probleme zu lösen. Aber wir brauchen nicht bessere Minister, sondern bessere Berufspolitiker in der Ärzteschaft und bei den Krankenkassen. Eine Reform des deutschen Gesundheitswesens ist längst überfällig. Mit den Milliarden, die die gesetzliche Krankenversicherung jährlich bereitstellt, läßt sich eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung organisieren.

Wo müßte eine echte Gesundheitsreform ansetzen?

Das gesellschaftspolitische Ziel, Kosten zu dämpfen, ist respektabel. Auch die deutsche Ärzteschaft ist bereit, einen Beitrag zur Umsetzung einer Gesundheitsreform zu leisten, die diesen Namen wirklich verdient. Die Seehoferschen Konzepte gehen aber deswegen in die Leere, weil sie zentralstaatliche Bürokratie und Kontrolle an die Stelle von Reformbereitschaft vor Ort setzen. Weil sie die Grundorientierungen deutscher Sozialpolitik — Solidarität und Subsidiarität — nicht ernst nehmen. Denn danach müßte zunächst eine Krankenkassenstrukturreform erfolgen. Wahlfreiheit der Patienten kann erst hergestellt werden über die Pflicht der Kassen, wirklich jeden Bürger aufzunehmen. Dadurch wäre auch die Chancengleichheit im Wettbewerb der Krankenkassen garantiert. Dann ginge es endlich um Leistung und nicht um Risikoselektion, wie im bisherigen Kassensystem.

Die Pläne Seehofers sehen bei der Vergabe von Medikamenten ein Limit vor. Alle Verordnungen, die über dieses Arzneimittelbudget hinausgehen, sollen sich in Honorarkürzungen niederschlagen. Darüber hinaus wird eine stärkere Selbstbeteiligung der PatientInnen anvisiert. Wie stehen Sie dazu?

Die Arzneimittelbudgets halte ich nicht für notwendig. Was wir brauchen, ist eine Selbstverwaltung bei Krankenkassen wie bei der Ärzteschaft, die sich sozial verpflichtet fühlt. Mit einer verstärkten Zusammenarbeit in der ambulanten ärztlichen Versorgung läßt sich erreichen, daß der Arzneimittelkonsum um 20 bis 30 Prozent zurückgefahren werden kann. Ärzte sind natürlich nicht Opfer des Gesundheitswesens, sondern handelnde Subjekte. Sie haben dadurch, daß sie 80 Prozent der Mittelverteilung steuern, den Hebel in der Hand. Die Selbstbeteiligung halte ich dort für sinnvoll, wo sie sozialpädagogisch wirkt. Zum Beispiel sollten unnötige Schlafmittel oder durchblutungsfördernde Arzneien, deren Wirksamkeit gar nicht gegeben ist, nur über die Selbstbeteiligung finanziert werden. Das hieße, der wirklich Kranke bekommt, was er braucht, und der, der Probleme über rosarote Brillen wegdrücken will, soll auch dafür bezahlen.

Vergangene Woche haben Sie dafür plädiert, daß das Abrechnungswesen der Krankenkassen grundsätzlich reformiert werden möge.

Das jetzige Honorarsystem zerstört die ärztliche Kunst und produziert den Druck, Abrechnungsoptimierung wichtiger zu nehmen als die Patientenbetreuung. Das, was ärztliche Arbeit ausmacht — den ganzen Menschen zu betreuen und dabei körperliche und soziale Faktoren zu integrieren —, wird durch die Abrechnung von Einzelleistungen zu einer technischen Fließbandbehandlung zerfleddert. Mit dem Ergebnis, daß die Gesundheit auf der Strecke bleibt. Wir produzieren laufend Krankheitsformeln, die sich abrechnen lassen. Daher plädiere ich für die Preisgabe dieses Systems und statt dessen für den Stundenlohn für Ärzte und patientenbezogene Pauschalhonorare. Das Menschenbild, das hinter dem Honorarsystem steckt, ist das einer Körpermaschine. Heute weiß die Bevölkerung, daß die geistigen Kräfte Einfluß auf den Körper haben und daß eine ausschließliche Berücksichtigung der Muskelmaschine nicht ausreicht. Aber diese banale Erkenntnis ist bei den Funktionären konservativer Ärzteschaften noch nicht angekommen.

Welche Chancen sehen Sie für eine Reform des Gesundheitswesens, die Alternativen miteinbezieht?

Der Verdienst von Seehofer ist, daß er die Konflikte auf den Punkt bringt, die Verhältnisse zuspitzt. Nun ist die Ärzteschaft gefordert, zusammen mit den Krankenkassen das Heft in die Hand zu nehmen. Ich erwarte, daß es im Laufe des Jahres gelingt, das jetzige Hickhack und Gegeneinander in ein koordiniertes Gemeinschaftswerk Gesundheitsreform zu überführen. Die Bereitschaft dazu ist in der Ärzteschaft vorhanden. In der jetzigen Grundentscheidung geht es um die Frage: Wie soll es mit dem deutschen Gesundheitswesen weitergehen? Werden Solidarität und Subsidiarität beibehalten, oder kommt es zu einer Verstaatlichung mit all den Mängeln, die wir aus anderen Ländern kennen. Eine dritte Variante wäre die wilde Privatisierung, mit dem Ergebnis, daß ein Drittel der Bevölkerung wie in den USA aus der Versorgung ausgegrenzt wird und gleichzeitig die Kosten weitaus höher liegen. Interview: Karin Flothmann