■ Vom Nachttisch geräumt
: Wehret den Anfängen: Bärbel Schrader / Geschrei: John Updike / Ein Fotograf: Ferdinando Scianna / Revolutionäre: Jörg Schröder / Vertraute Fremde: Christopher Hope / Kinderschutz: Herwarth Röttgen

Wehret den Anfängen

„Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque war einer der bekämpftesten Romane der Weimarer Republik. Als die amerikanische Verfilmung des Bestsellers in die deutschen Kinos kam, organisierte Goebbels, der Gauleiter der Berliner NSDAP, seine Sturmtruppen gegen den Streifen. Kinobesitzer wurden unter Druck gesetzt, Vorführungen des Films massiv gestört. Im Dezember 1930 wurde der Film verboten. Das Berliner Tageblatt schrieb: „Das Verbot des Films ,Im Westen nichts Neues‘ ist nicht auf Grund des Gesetzes erfolgt. Es ist auf Kommando der Straße ergangen. Es ist ausgesprochen worden, weil in der Millionenstadt Berlin einige tausend berufsmäßige Lärmmacher und politische Abenteurer eine Aufführung, die ihnen mißfiel, zu einem Triumph über ihre politischen Gegner und die Staatsgewalt mißbrauchen wollten. Auch diese Affäre zeigt wieder mit erschreckender Deutlichkeit, daß die einzige Gefahr, die Deutschland bedroht, nicht das nationalsozialistische Wachstum und Maulheldentum ist, sondern die Schlappheit, Nachgiebigkeit und Bedenklichkeit des sogenannten ,Bürgertums‘.“

Bärbel Schrader hat auf mehr als 400 Seiten die Auseinandersetzungen Deutschlands und Österreichs um Remarques Buch eindrücklich dokumentiert. Rezensionen von unter anderen Zuckmayer, Benno von Wiese und Karl August Wittfogel —, Filmbesprechungen — darunter auch die von Kracauer —, sowie die Auseinandersetzungen im Preußischen Landtag: keine erfreuliche, dafür eine um so erhellendere Lektüre.

„Der Fall Remarque“. Hrsg. von Bärbel Schrader, Reclam-Verlag, Leipzig, 415Seiten, 16DM.

Geschrei

Die Buchstabenfabrik John Updike produziert neben Romanen, Erzählungen und Gedichten auch unzählige Essays und Rezensionen. 1991 erschien „Odd Jobs — Essays and Criticism“. 919 Seiten für eine Auswahl seiner Buchbesprechungen aus den letzten acht Jahren.

Ein Band, den wohl kaum jemand von der ersten bis zur letzten Seite durchliest, in dem aber jeder, der ihn in Händen hält, begeistert stöbern wird. Updike ist ein Autor, der sein Publikum zu amüsieren versteht, und für uns wird er besonders interessant, wenn er seine hellwachen Augen auf Bereiche lenkt, die uns vertraut vorkommen. „Irgendwo wurde Hitlers Macht über die Deutschen einmal damit erklärt, daß er seine Zuhörer mit eben jener schrillen Stimme anbrüllte, mit der deutsche Ehemänner ihre Frauen anzusprechen gewohnt sind. Der österreichische Dramatiker, Romancier und Lyriker Thomas Bernhard, der vergangenen Februar im Alter von 58 Jahren starb, wurde mit den höchsten literarischen Auszeichnungen der deutschsprachigen Welt geehrt. Sein großer Erfolg bei Kritik und Publikum (seine Stücke wurden überall gespielt) hat möglicherweise eine ähnliche Ursache: Sein Schreiben drohte immer in schrilles Geschrei umzukippen, und die germanische Seele betrachtet Geschrei als Beweis für liebevolles Interesse.“ Auch der größte Bernhard-Bewunderer wird lächelnd zugeben müssen, daß Updike recht hat. Hätte Bernhard nur Romane und Erzählungen geschrieben, dann könnten wir noch annehmen, wir ergötzten uns nur an der Form des Geschreis, an der stummen Geste des verbalen Ausrastens, deren Pirouetten keiner so kunstvoll ausgefahren hat wie Thomas Bernhard. Aber da sind noch die Theaterstücke. Zwei Stunden Gekeife, Meckerei von der Bühne herab. Wer das nicht nur aushält, sondern es genießen kann, wessen Ohren die Kakophonie der schrillen Klänge soweit überhören kann, um sich ihrer bizarren Schönheit erschließen zu können, der muß durch eine ganz spezielle Schule gegangen sein.

Aber ganz offensichtlich war der begeisterte Bernhard-Leser Updike am selben Gymnasium. Und Hunderttausende in Italien, Frankreich und England ebenfalls. So schön die einleitende Pointe von Hitler, den Deutschen und ihrem ehelichen Umgang miteinander ist, so sehr führt sie in die Irre. Sie erhellt nicht die Begeisterung für Bernhard. Allenfalls wirft sie ein Licht auf die Ursprünge, die Herkunft des Autors.

John Updike: „Odd Jobs — Essays and Criticism“. Alfred A. Knopf, 920Seiten, 35 US-Dollars.

Ein Fotograf

Ferdinando Scianna ist einer der bekanntesten italienischen Fotografen. Vor fast dreißig Jahren veröffentlichte der 22jährige Sizilianer einen Bildband „Feste religiose in Sicilia“, Bilder intensiver, auch perverser Sinnlichkeit. Ein Priester, der Frauen einen kleinen, nur mit einer weißen Windel bekleideten Jungen entgegenstreckt. Scianna zeigt die freudige Erregung der alten Frauen, die das lebende Jesuskind berühren wollen. Das Kind wird nur am rechten Oberarm festgehalten und so in die lüsterne Menge geschwenkt. Die Kamera zeigt nicht das Gesicht des Priesters, sie zeigt, wie seine Finger sich in den Oberarm des Kindes eingraben. Der Band wurde ein großer Erfolg, seit 1987 gibt es eine Neuausgabe in großem Format mit einer Einleitung von Sciannas langjährigem Freund, dem sizilianischen Autor Leonardo Sciascia. Scianna hat später berühmte Reportagen gemacht, hat wesentlich die große Zeit der Fotografie des Europeo mitgeprägt. Er war zum Beispiel der erste, der Fotos vom Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei mitbrachte. Er war in Äthiopien, im Libanon, in Lateinamerika, in Indien und den USA. Berühmt wurden auch seine Porträts von Jorge Luis Borges, Sciascia und Cartier-Bresson. Scianna hat nicht nur fotografiert, sondern auch politische Essays veröffentlicht, Reportagen für Le Monde Diplomatique geschrieben. Seit fünf Jahren macht er auch Modefotos. Über seine Aktivitäten informiert ein Band, für den der spanische Autor Manuel Vázquez Montalbán eine Einleitung und Leonardo Sciascia eine Nachbemerkung geschrieben haben. Der aber vor allem interessiert — abgesehen von den Fotos aus fast dreißig Jahren — wegen eines Interviews, in dem man auch etwas erfährt über die Schwierigkeiten eines engagierten Fotojournalismus im Italien der letzten Jahre.

Ferdinando Scianna: „Le forme del caos“. Art & Srl, Udine, 260Seiten, 262 Schwarzweiß-Aufnahmen.

Revolutionäre

„Schröder erzählt“ sind 45seitige Broschüren, die Jörg Schröder an Abonnenten verschickt. Er erzählt Schwänke aus seinem Leben, freundliche Geister tippen die Sachen ab, dann wird das Ganze in einen Chromolux-Karton gebunden, und ab geht die Post. Keine Ahnung, wie hoch die Auflage ist. Sollte Schröder 500 Exemplare verkaufen, so entspräche das einer Einnahme von 25.000DM. Die Kosten dürften ein Drittel kaum erreichen. Ein gutes Geschäft. Noch besser aber sind seine Geschichten. In der im Mai erschienenen 9. Folge „Bubi“ erzählt Schröder, wie er 1955 in Bonn im „Haus Vaterland“ am Wurstgrill einen „Typ mit dicken Brillengläsern, einer Baskenmütze, in einem Ulster“ kennenlernte. Der Mann erzählte ihnen, daß er eine Presseagentur betreibe, die Bonner Ministerien mit Geheimdossiers versorge. Dann erzählte er dem 17jährigen Schröder von der Internationale der Homosexuellen, von ihrem Einfluß und seinen Kenntnissen. Dem jungen Mann imponierte das mächtig. Erich Wollenberg hieß der Mann mit der Baskenmütze. Während der Münchner Räterepublik war der 1892 geborene Wollenberg Kommandant der Roten Armee, 1923 Leiter des bewaffneten Aufstands der KPD in Bochum, 1931 Leiter des illegalen Rontfrontkämpferbundes, 1933 Ausschluß aus der KPD wegen Trotzkismus. Emigration nach Prag und Paris. 1946 zurück nach Deutschland, Arbeit als Journalist. Schröder konnte sich keinen besseren Lehrer über die Geheimgeschichte der KPD wünschen als Wollenberg. Mitten im Bonn der Restauration einer, der alles wußte über die Kunst des Aufstands. Eine glänzende Schule für Jungsiegfried.

Schröder erzählt: „Bubi“. März Desktop Verlag, Hauptstraße 29, 8915 Fuchstal-Leeder, 50DM.

Vertraute Fremde

Christopher Hopes „Moskau! Moskau!“ ist eine der besten Einführungen in die russische Hauptstadt. Sein Buch erschien 1990 in London. Hope glaubte den Versicherungen Gorbatschows kein Wort. Er hält dessen Reformversprechungen für Reklame. Damit hatte er sicher Unrecht. Aber die tausend kleinen Beobachtungen, der Sinn für die Signifikanz des Unwesentlichen und, damit verbunden, das sichere Gespür für das, worauf es ankommt, machen die Lektüre seines Buches für jeden, der sich auch nur ein wenig für das interessiert, was in Rußland passiert, unumgänglich. Daß es außerdem noch jeden begeistern wird, der es mag, wenn ein Autor zu schreiben versteht, wenn sarkastische Prägnanz und politisches Engagement sich verbinden, macht das Buch zu einem Glücksfall.

Niemand hat so brillant beschrieben, wie in der angeblich klassenlosen Sowjetgesellschaft an jedem Hoteleingang sich ein strenges Spiegelbild der wahren Hierarchie dieses Sozialgefüges herausbildet. „Ihr da oben — wir da unten“ — in wenigen Ländern der Welt war diese Dichotomie so in Kraft wie in der Sowjetunion. Hope betont immer wieder, wie seine südafrikanische Herkunft, sein an der Apartheid geschultes Auge in Moskau nur zu oft aufs verabscheut Vertraute stößt.

Christopher Hope: „Moskau! Moskau!“ Übersetzt von Joachim Kalka, Klett-Cotta, 240Seiten, 34DM.

Kinderschutz

Diesen Sommer empören wir uns über Pornovideos mit Kindern. Eine verrückte Diskussion. Wer irgendjemandem Gewalt antut, gehört bestraft oder doch jedenfalls zur Rede gestellt, gemahnt, therapiert. Ob es Kinder oder Greise sind. Ob er Kinder oder Greise körperlich oder seelisch mißhandelt hat. Ob er es tut, um sich einen pekuniären oder um sich einen pornographischen Lustgewinn zu verschaffen. Die Insistenz, mit der die „Anständigen“ auf letzteren sich kaprizieren, wirft ein eigentümliches Licht auch auf ihre eigenen Probleme.

Herwarth Röttgen hat ein kluges Buch geschrieben, das allen, die in dieser Debatte sich engagieren, empfohlen werden muß. Der Autor ist Professor der Kunstgeschichte in Stuttgart und einer der besten Caravaggio-Kenner. Sein Buch analysiert „Der irdische Amor“ des wohl wildesten Malers der Geschichte.

Das Bild zeigt einen etwa 12jährigen nackten Jungen, der dem Betrachter sein kleines Geschlecht entgegenstreckt. Eine eindeutige Aufforderung, der der Maler, wie man weiß, nur zu gern nachgekommen war. Der kleine Junge war Caravaggios Geliebter, wurde sein Lehrling. Als Cecco del Caravaggio ist auch er in die Kunstgeschichte eingegangen. Röttgen weist auf einen „Amor an der Quelle“ des erwachsenen Cecco hin und interpretiert ihn überzeugend als eine Antwort auf das Porträt, das der ältere Caravaggio von dem damals 12jährigen Maler gemacht hatte. „Die Darstellung wirkt wie das leidende Gegenbild zum übermütigen Amor Caravaggios. Hat Amor selbst das Bild gemalt? Was sollte sonst der Pfeil bedeuten, der Amor gehört und vor dem Bild wie ein Malstock steckt.“

Röttgen arbeitet sehr schön das provokante, das aggressiv Sexuelle von Caravaggios „Der irdische Amor“ heraus. Der jahrhundertelange Kampf der Kunsthistoriker, das Bild zu entpornographieren ist lächerlich und Teil eben jenes Klimas, gegen das das Bild so vehement sich wehrt. Röttgens kleines Buch hilft hoffentlich auch ein wenig, seinen Fachkollegen die Augen zu öffnen, für die bis zur Erblindung reichenden Verdrängungsleistungen, die sie mit ihren herkömmlichen symbolisierenden oder formalisierenden Interpretationen nicht nur sich und ihren Schülern, sondern der Öffentlichkeit insgesamt antun. Große Maler waren immer auch Pornographen. Wer hätte schließlich Fleisch schöner beschrieben und wer hätte schöneres Fleisch beschrieben? Die antike Überlieferung, die dem Künstler den höchsten Rang zuwies, der Äpfel so gemalt habe, daß man nach ihnen greifen wollte, hatte sicher nicht ohne sexuelle Anzüglichkeit von Äpfeln gesprochen. Man versteht nichts von Kunst, wenn man sie mit Moral verwechselt, und man hat keine Moral, wenn man sie mit Heuchelei verwechselt. Herwarth Röttgens „Der irdische Amor“ ist ein Buch auch darüber.

Herwarth Röttgen: „Caravaggio — Der irdische Amor oder der Sieg der fleischlichen Liebe“. Fischer, 97Seiten, mit einer vierfarbigen und vielen Schwarzweiß-Abbildungen, 16,80DM.