Big Ted Says No

Was verbindet Theodor W. Adorno mit den Sex Pistols und den Lettristen? Eine Geheimgeschichte der Gegenkultur gibt Auskunft  ■ Von Elke Schubert

Bedeutet Geschichte nichts weiter als Ereignisse, die wäg- und meßbare Dinge zurücklassen — neue Institutionen, neue Landkarten, neue Herrscher, neue Sieger und Verlierer —, oder ist sie auch das Resultat von Momenten, die scheinbar nichts zurücklassen, nichts als das Rätsel von mysteriösen Verbindungen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander getrennten Menschen, die dennoch die gleiche Sprache sprechen?“ Diese Frage zieht sich als roter Faden durch das verschwenderisch gestaltete Buch „Lipstick Traces“ von Greil Marcus, einem amerikanischen Politologen, der Musikfans durch die Rockbibel „Mystery Train“ bekannt sein dürfte. Der Titel ist Programm, denn Marcus hat eine Art Geheimgeschichte der Gegenkultur unseres Jahrhunderts geschrieben und versucht, scheinbar disparate und zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse miteinander zu verknüpfen. Lippenstiftspuren eben, der Titel ist dem amerikanischen Song „Lipstick Traces on a cigarette“ entlehnt, und die Metapher erweist sich als äußerst treffend für den Untersuchungsgegenstand des Buches.

Wenn es auch zunächst erstaunen mag und man sich fragt, was Adornos „Minima Moralia“ mit den „Sex Pistols“ zu tun haben könnten, wenn also der Autor selbst einräumt, daß Adorno schon die Jazzmusik zuwider gewesen sei und ihn ein Punkkonzert wahrscheinlich an die Rückkehr der Reichskristallnacht erinnert hätte, so hat er an sein Buch Ansprüche gestellt, die nicht so leicht einzulösen sind. Doch Marcus hält sein Versprechen, und das in einer höchst unterhaltsamen, fast poetischen Sprache. Zwischen den Songs der „Sex Pistols“ und Adornos Kritik an der westlichen Zivilisation nach dem Zweiten Weltkrieg existieren nämlich mehr Gemeinsamkeiten, als man glauben könnte. „,Minima Moralia‘ wurde als eine Reihe von Sentenzen, von Reflexionen verfaßt, jeder einzelne monolithische Absatz marschierte unaufhaltsam in Richtung Zerstörung jeder Spur von Hoffnung, die er enthalten mochte, jedem Absatz war ein ohnmächtiger Fluch vorangestellt, blanke Ironie ... Nach 1977 hätte man ein Sprech-Brüll-Album mit dem Titel ,Big Ted Says No‘ veröffentlichen können.“ Es gehört schon eine Portion Frechheit dazu, Adornos bis ans Penible grenzende ausgefeilte Sprache mit dem Gestammel der erfolgreichsten Dilettanten aller Zeiten überhaupt in Verbindung zu bringen. Aber gerade diese Frechheit ist erfrischend und vor allem unverzichtbar. Wenn man sich traut, die unüberwindbare Grenze zwischen Philosophie und Popkultur einfach niederzureißen, kann man zu verblüffenden Resultaten kommen.

Von einem Großteil der Protagonisten seiner Geheimgeschichte, ihren Schriften und Aktionen, dürften die wenigsten etwas gehört haben. Sie waren Helden für einen Tag, machten im Laufe dieses Jahrhunderts durch spektakuläre Auftritte kurzfristig Schlagzeilen, nannten ihre marginalen Gruppen „Lettristen“ oder „Situationistische Internationale“ und wurden ebenso schnell vergessen, wie sie als Schlaglichter in die Öffentlichkeit geraten waren. Ihre Publikationen und Filme stellten radikal die Seh- und Lesegewohnheiten des Publikums in Frage, und das ist eher untertrieben, wenn man an die Filme von Isidore Isou denkt, bei denen die Zuschauer eine halbe Stunde lang auf eine schwarze Leinwand starrten und anschließend feststellen mußten, daß sie lediglich auf das Ende der Vorführung gewartet hatten. Greil Marcus nimmt sich die Programme der einzelnen Gruppen vor, beschreibt ihre abenteuerlichen Gründungsgeschichten und stößt weit in ihre verschlungenen Konzepte hinein. Es sind vor allem die Gemeinsamkeiten und feinen Verbindungslinien, die ihn interessieren.

Zum Beispiel die Lettristen, eine Pariser Gruppe auf der Bruchstelle der vierziger und fünfziger Jahre, deren größtes Verdienst laut Marcus war, daß sie überhaupt fünf Jahre „durchgehalten“ hatten. Waren sie ein kleiner esoterischer Kreis, oder spiegelten sie das Lebensgefühl einer jungen Generation in Frankreich wider? Diese Frage ist in der Retrospektive schwer zu beantworten. Sicher ist, daß sie alle Insignien einer rebellierenden Jugend zur Schau stellten, die so ganz anders als ihre Eltern sein will. Sie trugen mit Losungen und Namen ihrer Idole bemalte Kleidung und gefärbte stachlige Frisuren, die Jahrzehnte später zum „Markenzeichen“ der Punks wurden. Betrachtet man die Fotos, die der Holländer Ed van der Elsken mehr zufällig im Lieblingscafé der Lettristen, dem „Moineau“, schoß, nicht ahnend, daß er mit ihnen ein historisches Moment unseres an historischen Momenten so reichen Jahrhunderts einfing, so werden die Parallelen augenfällig. Ihre ersten Programme, mit defekten Schreibmaschinen und unter Mißachtung aller Grammatik- und Rechtschreibregeln der französischen Sprache geschrieben, zeichnen sich durch die Negation alles Bestehenden und die Einforderung eines Glückszustandes aus, von dem nur vage eine Vorstellung existierte. Der Name „Lettristen“ bedeutet eigentlich überhaupt nichts. Wahrscheinlich stimmt die Legende, daß der Begründer der Lettristen, der sich Isidor Isou nannte — verliebt in Aliterationen und in Anlehnung an sein großes dadaistisches Vorbild Tristan Tzsara —, 1946 anläßlich der Premiere eines Theaterstücks von Tzsara den Vortrag des ehemaligen Surrealisten Michel Leiris mit den Worten störte: „Über Dada wissen wir bescheid, Monsieur Leiris! Wie wär's mal mit was Neuem? Zum Beispiel Lettrismus?“ Am nächsten Tag berichtete die linke Tageszeitung Combat über eine Störung der „Lettristen“, und schon war eine neue Gruppe geboren, die zunächst aus zwei Mitgliedern bestand und sich auch nicht sonderlich vergrößern sollte. Man gründete die erste von vier lettristischen Zeitungen, La Dictature lettriste, von der Greil Marcus ganz richtig schreibt: „Heute kann man sich den Luxus erlauben, den Titel dieser Zeitung als pubertären Einfall oder schieren Größenwahn zu deuten, aber 1946 mußte er das Publikum entsetzen. Tagtäglich quollen die Zeitungen über von Artikeln, in denen Franzosen als Nazikollaborateure entlarvt wurden, von Enthüllungen unvorstellbarer Nazigreuel und Berichten von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen; in diesem Zusammenhang war die Verwendung des Begriffes ,Diktatur‘ schlimmer als die Hakenkreuzverherrlichung der Punks, lag aber auf dem gleichen Niveau.“ Im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen, die die Welt verändern wollten, standen die Lettristen mit ihrem Leben dafür ein, das soll heißen: Verweigerung der Arbeit, viel Alkohol, das Herumstreifen in den Vierteln, das die Situationisten später mit dem Begriff „dérive“ (Technik der ziellosen Verlagerung) und „Psychogeographie“ in ihre theoretischen Schriften aufnehmen sollten. Marcus zitiert einen Brief, in dem dieses Lebensgefühl wie in einem Brennspiegel eingefangen ist: “...ich bin zurück... Joel ist seit einiger Zeit wieder raus, vorläufig frei. auch unter Vorbehalt auf freien Fuß gesetzt, Jean-Michel und Fred (Wohnwagen ausgeraubt — betrunken natürlich). Eliane, die Kleine, ist letzte Woche aus Polizeigewahrsam entlassen worden. Passierte nach einer dramatischen Festnahme ... mit Joel und Jean-Michel (erübrigt sich zu sagen, daß sie besoffen waren); die Polizei hat die Tür eingetreten, weil sie nicht aufmachten. Bei der Geschichte haben sie das Siegel ,Internationale Lettriste‘ verloren. ... Gestern habe ich reichlich gekotzt bei Moineau. Der letzte Schrei im Viertel: die Nacht in den Katakomben verbringen...“ Dieses Dokument ist für Marcus der Beleg für den fundamentalen Unterschied zwischen den Lettristen und den späten Surrealisten, die einmal ähnlich angefangen hatten, sich in den fünfziger Jahren aber nur noch auf radikale Wortspielereien beschränkten. Da hängten die Lettristen ihre Ansprüche weitaus niedriger, auch sollten sie nie die geschliffene Sprache der Surrealisten oder ihrer Nachfolgeorganisation — der Situationisten — erreichen, aber immerhin hatten sie den Vorteil, daß man sie in die Praxis umsetzen konnte. Lange war so ein aufreibendes Leben nicht durchzuhalten, denn wer darf beispielsweise unbehelligt das Recht auf Faulheit einfordern und auch noch realisieren, ohne daß der staatliche Apparat ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Ähnlich war es den Dadaisten ergangen, von denen einige den Frevel begingen, doch noch den verpönten Roman zu schreiben, andere bürgerliche Berufe ergriffen oder sich — wie Hugo Ball — fanatischen religiösen Sekten verschrieben. Auch die Geschichte der Lettristen ist voll von Biographien des Verrats an der Idee oder des Scheiterns, nicht wenige landeten in der Psychatrie oder im Alkoholismus.

Aber ich greife vor, noch ist es nicht soweit. Noch wird es die Aktion in Notre Dame geben, ein Ereignis, das einigen Wirbel auslöste und weit in die Geschichte der Situationisten hineinreichen wird, deren Name etwas mit der Schaffung von „Situationen“ zu tun hat, und das war eine „Situation“ nach ihrem Geschmack. Man kann diesen Vorfall auf ganz unterschiedliche Weise lesen: Einerseits als Produkt der reichlich verwickelten Biographie seines Protagonisten Michel Mourre, andererseits als geschichtlichen Augenblick, der zwangsläufig den Pariser Mai 1968 vorbereitete, obwohl er sich fast zwanzig Jahre zuvor ereignete: „Am 9.April 1950 um elf Uhr zehn betraten vier junge Männer die Kathedrale von Notre Dame in Paris — einer von ihnen vom Scheitel bis zur Sohle als dominikanischer Mönch verkleidet. Die Ostermesse war in vollem Gang; zehntausend Menschen aus aller Welt hatten sich in der Kathedrale eingefunden. ,Der falsche Dominikaner‘, wie ihn die Presse nennen sollte — Michel Mourre, zweiundzwanzig —, nutzte eine Pause nach dem Credo und erklomm den Altar. Er begann eine Predigt zu verlesen, die einer seiner Mitverschwörer, der fünfundzwanzigjährige Serge Berna, verfaßt hatte.“ Ohne Zweifel ein Euphemismus, denn hier wurde eine Schmährede auf die katholische Kirche gehalten, dem „Krebsgeschwür des zerfallenden Okzidents“, eine Entlarvung der Predigten „als schmieriger Dünger für die Schlachtfelder Europas“, und sie gipfelte in der emphatisch vorgetragenen Feststellung:„Gott ist tot!“ Das Folgende überraschte selbst die Störer. Der Tumult war ohrenbetäubend, und Mitglieder der Schweizer Garde versuchten den falschen Prediger zu töten. Die Menschenmenge verfolgte die vier Jugendlichen bis an die Ufer der Seine und war nahe dran, sie zu lynchen. Dieses mittlerweile längst vergessene Ereignis bestimmte die Tagespresse der ganzen Welt, und wiederum sollte man sich die damalige Situation vor Augen führen. Die Kirche war unangefochten wie nie zuvor, Papst Pius der XII. ein ausgewiesener Antisemit mit unverhohlenen Sympathien für den Faschismus. Was diese vier Jugendlichen taten, war Gotteslästerung, Frevel und fast so schlimm wie ein Mord. Bei den Surrealisten löste ihre Tat eine unerwartet hohe Welle der Sympathie aus, in die sich ein merkwürdig nostalgischer Ton einschlich. „Seltsam war, daß die Nostalgie einer Vergangenheit galt, die es nie so recht gegeben hatte, großen Tagen, die nie so recht gelebt worden waren, einer Explosion, die nie stattgefunden hatte. Begeistert versuchten die Surrealisten von einem spektakulären öffentlichen Ereignis zu profitieren, aber hinter dieser Begeisterung lag ein Vakuum an Scham, weil sie zweiundzwanzig Jahre lang in Cafés und Galerien auf uneheliche Kinder gewartet hatten, die ihr Vermächtnis erfüllen sollten.“

Und es gab immer wieder „Kinder“, die das „Vermächtnis erfüllten“, denn die Geschichte der Lettristen führte über die Situationistische Internationale direkt in den 68er Mai, wo die lettristische Parole „Ne travaillez jamais“ wieder an den Wänden auftauchte, und findet auch Ende der Siebziger ihre Entsprechung, als das ehemalige S.I.- Mitglied Macolm McLaren Manager der „Sex Pistols“ wurde und der „Great Rock 'n' Roll Swindle“ begann, die Entlarvung der Mechanismen einer Kulturindustrie, genau wie sie Adorno und Horkheimer schon 1947 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ analysiert hatten, als würden sie sich mitten in den Achtzigern befinden.

Spannend wird es bei Marcus erst recht, wenn er nachweist, daß einige Gruppen die Programme ihrer Vorgänger aus längst vergangenen Zeiten gar nicht gekannt haben und trotzdem verblüffende Parallelen anzutreffen sind, die gleiche Sprache, die gleichen Träume, die gleiche Kleidung. Hier wird die Spurensuche zum Detektivspiel und schlägt sich auch im dramatischen Aufbau des Buches nieder. Marcus arbeitet mit Suspense, und wir folgen atemlos seinen verschlungenen Wegen, entdecken Verknüpfungen, die uns nie in den Sinn gekommen wären.

Greil Marcus: „Lipstick Traces. Von Dada bis Punk — Kulturelle Avantgarde und ihre Wege aus dem 20.Jahrhundert“. Rogner & Bernhard bei Zweitausendundeins. Deutsch von Hans M. Herzog und Friedrich Schneider. 509 Seiten. 33DM.