Nigeria: „Die Hölle ist da“

■ Wachsende Zweifel am Demokratisierungswillen des Militärherrschers Babangida Chaotische Vorwahlen/ „Die Stimmung auf den Straßen wird immer gereizter“

Berlin/Lagos (taz) — Der Demokratisierungsprozeß in der westafrikanischen Großmacht Nigeria gerät ins Stocken. Das im Juli gewählte Parlament soll nicht, wie geplant, im Oktober zusammentreten — sondern frühestens im Januar, nach den Präsidentschaftswahlen. Und auch diese könnten sich verzögern: Die innerparteilichen Vorwahlen für die Bestimmung der Präsidentschaftskandidaten, die seit zwei Wochen jeden Samstag in verschiedenen Bundesstaaten stattfinden, sind nach massiven Unregelmäßigkeiten ausgesetzt worden. Frühestens im September sollen sie wieder beginnen.

Insgesamt etwa 75 Aspiranten waren angetreten, um die begehrte Nominierung einer der beiden nigerianischen Parteien zu erlangen — die „eher rechten“ Republikaner (NRC) und die „eher linken Sozialdemokraten“ (SDP), die Militärherrscher Ibrahim Babangida höchstpersönlich gegründet hatte, um Nigerias Tribalismus mit einem Zweiparteiensystem nach US-amerikanischem Vorbild zu überwinden. Politisch gleichen sich beide Parteien wie ein Ei dem anderen — sogar ihre benachbarten Hauptquartiere in der Hauptstadt Abuja sind völlig identisch. Einziger Unterschied: Die SDP stützt sich auf den christlichen Süden, während die NRC auf die Sympathien des muslimischen Establishments im Norden zählen kann.

Die Vorwahlen verliefen chaotisch. Wahlen sind in Nigeria nicht geheim; die Wähler reihen sich vor öffentlichen Wahltischen in zwei Schlangen ein — eine für die NRC, eine für die SDP. Die Chancen für Manipulation sind also hoch — umso mehr bei den Vorwahlen, da diese für beide Parteien gleichzeitig stattfanden. Olu Falae, bis 1990 Finanzminister und jetzt einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, meinte: „Wer immer als Sieger aus diesem Blödsinn hervorgeht, ist ein Produkt des Betruges.“

„Die Leute wechselten von der Warteschlange einer Partei zur anderen oder vom Anfang der Schlange zum Ende, womit sie doppelt gezählt wurden“, sagte ein Beobachter im Bundesstaat Maidiguri. In den Staaten Katsina, Kwara und Abia überstieg die Zahl der abgegebenen Stimmen die Mitgliedszahl beider Parteien bei weitem. Nachdem in Borno beobachtet wurde, wie Kandidaten der SDP offen Geld verteilten, annullierten die Sozialdemokraten ihre Vorwahlen; die Regierung reagierte mit der kompletten Verschiebung des Vorwahlprozesses.

Babangidas „verborgener Plan“

Noch vor wenigen Monaten schien alles in bester Ordnung: Freie Bundesstaatswahlen im Dezember 1991 brachten das seit 1983 vom Militär regierte Nigeria auf den versprochenen Weg zurück zur Demokratie. Spätestens im Januar 1993 sollte ein frei gewählter ziviler Staatschef sein Amt antreten. Doch die schweren Unruhen der letzten Monate, als zuerst in Lagos Studenten gegen das Militärregime demonstrierten — wobei bis zu 80 Menschen getötet worden sein sollen — und dann auch im Norden Hunderte von Menschen bei Streitereien um die Eintragung ins Wählerregister starben, nährten erste Ängste, Babangida halte einen „verborgenen Plan“ in der Tasche bereit, um eine politische Krise zu provozieren und die Machtübergabe zu verweigern.

Nach den Unruhen von Lagos wurden prominente Dissidenten verhaftet und gefoltert. 32 Kandidaten für die Parlamentswahlen vom 4.Juli wurden von der Wahlkommission der Militärjunta wegen „Unfähigkeit“ disqualifiziert. Auf dieselbe Weise, so Regimekritiker, könnten auch unliebsame Präsidentschaftsaspiranten an der Kandidatur gehindert werden. Osaze Lanre Ehonwa, amtierender Vorsitzender der „Civil Liberties Organisation“, sagt: „Es ist klar, daß die Regierung die Wahlfreiheit einschränken will, wenn sie nicht sogar ihre Nachfolger direkt bestimmen möchte“. Und als im Juli das neue Wahlregister veröffentlicht wurde, war die Verwunderung groß: Von bisher 64 Millionen Wahlberechtigten waren plötzlich nur noch 39 Millionen übrig.

Daß Informationsminister Sam Ovoybaire auf die Kritik mit dem Hinweis reagiert, „kleinere Modifikationen“ im demokratischen Prozeß seien ganz normal und auch der Wahltermin sei ja bereits mehrmals verschoben worden, wirkt da wenig vertrauenerweckend. Das gilt auch für die in anonymen Pamphleten anzutreffende Argumentation, das Militär habe Nigerias Wirtschaft dermaßen ruiniert, daß es unverantwortlich wäre, zum jetzigen Zeitpunkt den „vergifteten Kelch“ an zivile Nachfolger weiterzureichen — gerade weil dies teilweise stimmt.

Denn letzten März wertete die Regierung die Landeswährung Naira drastisch ab und setzte damit eine Inflationsspirale in Gang. Seither hat in dem ohnehin nicht reichen Land eine Massenverarmung eingesetzt: Das durchschnittliche Monatsgehalt von 500 Naira reicht kaum noch für einen Sack des Grundnahrungsmittels Maniok. Die Arbeitslosenquote wird auf etwa 40 Prozent geschätzt. Eine Zeitschrift titelte unlängst: „Die Hölle ist da!“

Was angesichts dessen Babangidas wirkliche Intentionen sind, weiß niemand genau. Klar ist eines: „Er weiß, daß er die Krise nicht übersteht“, wie ein Journalist sagt. „Die Leute merken, daß alles immer schlechter wird. Die Kinder verlassen die Schulen und finden keine Arbeit, und die Stimmung auf den Straßen wird immer gereizter“. D.J.