Schatzibub Carlo hat bald kein Zuhause mehr

■ In ihrer Kreuzberger Wohnung hält sich die Rentnerin Erna Schnell rund 70 Katzen/ Jedes der Tiere hat seine kulinarischen Vorlieben/ Bei Krankheiten homöopathische Behandlung/ Besitzer plant die Sanierung und Vermietung des Hauses

Erna Schnell rührt mit einer Suppenkelle durch eine bräunlich-flockige Masse. Putenleber, Rinderhack, Haferflocken, fein passiert und gekocht. »Das ist was Besonderes, das gibt's nicht immer. An normalen Tagen koche ich Rinderlunge und Rindereuter«, sagt sie über das Abendmenü für ihre etwa 70 Katzen und Kater. Wie viele Katzen es ingesamt sind, für die sie jeden Tag am Herd steht, in einer kleinen Kochecke mit vier Kühlschränken und sogar einer Mikrowelle, weiß die 66jährige Rentnerin nicht genau. Wichtiger ist, daß alle Katzen satt werden und auch die Gourmets unter ihren vierbeinigen Schützlingen auf den Geschmack kommen. Bis vor kurzem hat sie herrenlose Katzen aus ganz Berlin in ihrem Asyl in der Obentrautstraße aufgenommen. Deshalb muß sie sich beim Kochen auf eine verwöhnte Katze aus Wilmersdorf genauso einstellen wie auf den verwahrlosten Kater aus Neukölln. Bei ihrem »Brathuhnpüppchen«, wie sie liebevoll sagt, sei mit Fertigkost vom Discounter überhaupt nichts zu machen: »Außer frisch gebratenem Geflügel frißt die nichts.«

Auch »Schatzibub Carlo« darf sie nicht mit Dosenfutter kommen. »Wenn ich dem 'ne Büchse hinhalte, zieht er sofort die Strin kraus.« »Carlo«, ein schwergewichtiger Kater, der wie alle seine männlichen Artgenossen in Erna Schnells Katzenasyl kastriert ist, sei das einfältigste Tier. Als sein »Frauchen« starb, berichtet Erna Schnell, sei er plötzlich vollkommen allein und hilflos gewesen. Ohne ihr privates Katzenheim hätte der Kater eingeschläfert werden müssen — oder er wäre schlicht verhungert. Denn: Mäuse zu fangen haben die Hauskatzen, die Erna Schnell durchfüttert, nie gelernt. Die meisten wurden ausgesetzt. Nur wenige Katzenhalter gestanden sich ihre Unfähigkeit ein, für die Haustiere zu sorgen, und brachten die zur Belastung gewordenen Tiere direkt im Katzenheim vorbei.

Erna Schnell gönnt sich eine Zigarette. Platz zum Sitzen ist nur im schmalen »Büro«, einem vielleicht acht Quadratmeter großen Verschlag, der, abgetrennt mit Maschendraht und Sperrholz, zwischen zwei von insgesamt sieben Käfigen liegt. »Früher haben wir hier Silvester gefeiert«, erinnert sie sich. Heute findet kaum eine zweite Person in dem engen Büro Platz. Injektionskanülen, vergilbte Kartons, nicht ganz abgeleckte Styropor-Tabletts, auf denen irgendwann einmal durchgedrehtes Rindereuter serviert worden ist, und ein ganzer Schrank mit homöopathischen Arzneimitteln.

»Hypericum«, »Flor de Piedra« oder »Podophyllum« steht auf den kleinen grauen Plastikdosen. »Da muß man was von verstehen«, meint Erna Schnell und kramt aus einem Haufen angebrochener Kekstüten und alter Zeitungen ein homöopathisches Lehrbuch hervor. Wenn man sich etwas einlese, sei es nicht so schwer, den Katzen mit natürlichen Arzneimitteln zu helfen. Podophyllum soll bei »stinkenden Stühlen« sowie bei Brechdurchfall und Ruhr helfen. Zwei Katzen, die an Mundfäule litten, würde sie auch nur mit pflanzlichen Mitteln behandeln: »Hier die Katzen zu pflegen heißt nicht nur, Futter hinzuschmeißen«, sagt sie, »da muß ich zum Beispiel immer schauen, wie die Exkremente sind. Ist der Kot lehmig, sind die Tiere leberkrank.« Dennoch will sie ihre Vierbeiner, die bei den sommerlichen Temperaturen erschöpft wie Raubtiere auf den Etagen der Käfige liegen, nicht übermäßig mit Arzneimitteln vollpumpen. Die altersschwache Brathuhnkatze würde zwar ständig neben die Katzenklos pissen, aber Barium, ein Mittel zur Förderung der Hirndurchblutung, würde sie ihr doch nicht verordnen.

Bei Besuchern, die eine Katze oder einen Kater mit nach Hause nehmen wollen, hat Erna Schnell, zumindest was Durchblutungsstörungen im Kopf anbelangt, weniger Nachsehen. »Achtung, vor Inbetriebnahme Gehirn einschalten«, fordert ein Schild an einer Bürowand plakativ. »Wissen Sie, das meine ich durchaus ernst. Denn viele, die hier her kommen, wollen nur junge süße Katzenbabies. Die frag' ich dann immer, warum nehmen Sie nicht gleich Ungeborene?« empört sie sich. Grundsätzlich gibt sie ihre Lieblinge nur aus der Hand, wenn sich die neuen Besitzer vertraglich verpflichten, die Tiere gut zu behandeln. Wohngemeinschaften traut sie grundsätzlich die intensive Pflege der Katzen nicht zu. Erst kürzlich habe sie einen WG-Kater aufgenommen. Der sei so verstört gewesen, weil er keine feste »Bezugsperson« gehabt hätte. Sogar ihr habe er den »Oberschenkel fast aufgerissen«.

Die Lebensgeschichte der gelernten Feinmechanikerin ist von der Geschichte ihres privaten Katzenheims nicht zu trennen. Nach dem Tod ihres Mannes, die Ehe blieb kinderlos, lebte die akitve Tierschützerin bequem von der Witwenrente — bis sie miterlebte, wie ein Tierquäler im Stadtpark Dillgestraße fünf junge Katzenbabies zertrampelte. Das war ihr Schlüsselerlebnis. Danach konnte Erna Schnell nicht mehr tatenlos bleiben: »Da mußte ich was für die Katzen in Berlin tun. Und wenn man einmal damit angefangen hat, kommt man nicht wieder davon los.« Seitdem lebt sie für ihre Katzen, von sechs Uhr in der Früh bis spät in der Nacht. Unterstützt wird sie dabei nur von Tiermedizinstudentinnen und einer älteren Katzenliebhaberin. Seit kurzem helfen ihr zusätzlich zwei Drogenabhängige, die eine Entzugstherapie machen, als Praktikanten.

Der Plan des Hausbesitzers, das alte Fabrikgebäude im Hinterhof zu renovieren und an eine solvente Firma zu vermieten, droht Erna Schnells Lebenswerk jetzt zu zerstören. Bis Ende Dezember muß sie eine neue Unterkunft gefunden haben, sonst müssen alle Katzen eingeschläfert werden. Als Student sei ihr Vermieter ein »ganz netter Bursche« gewesen. Jetzt ginge es ihm augenscheinlich nur noch ums Geld. »Sie wissen doch, Frau Schnell«, habe er die Kündigung des Mietvertrags begründet, »Berlin ist jetzt Hauptstadt.« Rüdiger Soldt