Die therapeutische Abtreibung

Der vorgeburtliche Test Chorionzottenbiopsie soll Erbkrankheiten frühzeitig erkennen/ Studien vermuten, daß der Test zu Fehlbildungen bei Föten führen kann/ „Keine vorgeburtliche Diagnostik kann die Garantie geben, daß das Kind gesund ist“  ■ Von Barbara Sastra

Cynthia Kernats aus Palos Park im US-Bundesstaat Illinois wurde mit 35 Jahren schwanger. In diesem Alter gelte sie bereits als „Risikoschwangere“, erklärte der Arzt und riet ihr dringend zu einer vorgeburtlichen Diagnoseuntersuchung. Es solle festgestellt werden, ob „mit ihrem Kind alles in Ordnung“ sei. Sie folgte dem Rat und ließ in der neunten Schwangerschaftswoche eine Chorionzottenbiopsie vornehmen. Test-Ergebnis: „alles o.k.“ Vor 14 Monaten wurde ihre Tochter Sarah geboren. Sie hat verstümmelte Finger und Zehen und eine um die Hälfte verkürzte Zunge. Inzwischen erfuhr Kernats, daß der vorgeburtliche Test vermutlich diese Behinderungen verursacht hat.

Die Chorionzottenbiopsie (Chorion Villus Sampling, CVS) ist ein Eingriff, der zwischen der achten und der 13.Schwangerschaftswoche angewandt wird und Erbkrankheiten aufspüren soll, die durch „therapeutische Abtreibung“, so der Mediziner-Euphemismus, „beseitigt“ werden. Unter Ultraschallsicht wird eine lange Hohlnadel durch die Vagina in die Gebärmutter geschoben und Gewebe aus dem Chorion (Zottenhaut), dem kindlichen Anteil der späteren Plazenta, abgesaugt. Diese fötalen Zellen werden anschließend genetisch untersucht. Ab der 13.Schwangerschaftswoche wird der Eingriff auch durch die Bauchdecke vorgenommen. Viele Frauen empfinden diese Prozedur als schmerzhaft, einige haben danach Blutungen, vorzeitige Wehen und andere Komplikationen. Bei vier bis acht Prozent der Schwangeren kommt es zu einer Fehlgeburt — wobei allerdings auch die Rate von Spontanaborten im ersten Schwangerschaftsdrittel etwa vier Prozent beträgt. Häufig ist das Untersuchungsergebnis nicht eindeutig oder gar „falsch positiv“. Dann wird der Frau zu einem weiteren Test geraten oder gar durch eine „Verdachtsabtreibung“ ein gesunder Fötus abgetrieben.

Bereits im vergangenen Jahr hat eine Veröffentlichung in der englischen Fachzeitschrift The Lancet für Aufsehen gesorgt. Ein Team der britischen Oxford University hat herausgefunden, daß bei 289 Frauen, die vor der zehnten Schwangerschaftswoche eine CVS vornehmen ließen, fünf Babys eine eigentümliche, sehr seltene Behinderung aufwiesen: fehlende oder verstümmelte Finger und Zehen, teilweise auch eine verkürzte Zunge und ein unterentwickelter Unterkiefer. Die Autoren führten diese Anomalien auf eine Störung der embryonalen Blutversorgung zurück.

Seither mehren sich Studien, die den Zusammenhang zwischen dem CVS-Test und diesen Fehlbildungen bestätigen. Barbara Burton, Leiterin einer Studie, die am Chicagoer Humana Hospital erstellt wurde, berichtet, daß vier von 394 Babys mit solchen Fehlbildungen geboren wurden. Alle Frauen haben den CVS- Test vornehmen lassen. Im italienischen Multi-Center-Geburtsregister ist eine fünfzehnfache Erhöhung von Gliederfehlbildungen bei Kindern, deren Mütter eine CVS machen ließen, festgestellt worden.

Andere ForscherInnen bestreiten diesen Zusammenhang. Sie hehaupten, eventuelle Behinderungen seien eher Fehler unerfahrener Ärzte als dem Test selbst anzulasten. Sie verweisen auf eine aktuelle Studie, bei der Daten von weltweit über 50.000 CVS-Untersuchungen zusammengetragen wurden. Dabei sei „keine erhöhte Rate von Gliederfehlbildungen durch CVS“ festgestellt worden. Die Chicagoer Ärztin Burton hält dem entgegen, daß viele Behinderungen den ÄrztInnen, die CVS anwenden, gar nicht gemeldet würden. Zumal es sich bei diesen Gliederfehlbildungen um äußerst seltene Behinderungen handelt, die nur einmal unter 2.000 Neugeborenen vorkommen. Sie selbst hat nach der Veröffentlichung ihrer Studie von vier weiteren Fällen erfahren. Burton schätzt, daß die Rate von durch CVS hervorgerufenen Fehlbildungen unter einem Prozent liegt. Das statistische Risiko für eine Chromosomenanomalie, die durch Pränataldiagnostik entdeckt werden könnte, liegt aber auch nur bei einem Prozent.

Der CVS-Test ist Anfang der siebziger Jahre in China entwickelt worden. Wegen der rigiden Ein-Kind- Politik „wollten“ viele Paare eine vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung, um garantiert einen Sohn zu bekommen. Da die Auslese weiblicher Föten so „effizient“ war, daß kaum Frauen sich nach dem Test zum Austragen eines Mädchens entschlossen, wurde die CVS auf die „pränatale Diagnose von Erbkrankheiten“ eingeschränkt. Auch in Indien wird der Test massenhaft zur Geschlechtsbestimmung angewendet. In der Bundesrepublik wird die Chorionbiopsie seit 1983 praktiziert — in rasant steigendem Maß. Jährlich werden neben 50.000 Fruchtwasseruntersuchungen etwa 6.000 CVS durchgeführt, in den USA sind es jährlich 30.000 bis 40.000 CVS.

Seit jedoch vor zwei Monaten an der gynäkologischen Abteilung der Pennsylvania Universitätsklinik gewarnt wurde, der Test könne in seltenen Fällen Behinderungen hervorrufen, sei die Zahl von Frauen, die sich zu dem Test entschlossen, um 80Prozent rückläufig, erklärt der dortige Chefarzt Michael Mennuti. Er gibt zu bedenken: „Auch wenn es noch Unsicherheiten über die tatsächliche Rate von Fehlbildungen, die durch CVS hervorgerufen wurden, gibt, haben wir doch genug Fälle, die wir ernst nehmen müssen und die auf einen tatsächlichen Zusammenhang schließen lassen.“ Das Chicagoer Humana Hospital hat die CVS-Tests gestoppt, bis in Studien die Risiken geklärt würden.

„Die erste Alternative ist keine Diagnostik“

Auch der Humangenetiker Walter Holzgreve von der Universitätsklinik Münster, der selbst über 4.000 Chorionbiopsien durchgeführt hat, beteuert zwar, die Risiken sehr ernst zu nehmen, zieht jedoch daraus andere Schlüsse: „Nur sehr erfahrene Leute sollten die CVS machen. Es gibt viele Zentren, an denen die CVS nicht klappt, an einigen sind die Komplikationsraten unakzeptabel hoch.“ Bei beiden Studien, in denen es zu erhöhten Fehlbildungsraten gekommen sei, hätten „sehr unerfahrene Personen“ die Eingriffe vorgenommen. Eine ausführliche Beratung vor dem Eingriff, bei der die Frauen auf die Aussagemöglichkeiten des Tests und die Risiken von Komplikationen hingewiesen werden — „wie das leider in Deutschland oft nicht passiert“ —, sei in Münster selbstverständlich. Ein erfahrenes Team von drei Ärzten, die „die Technik absolut beherrschen“, nehmen dort die Untersuchung vor. „Geübt“ wird der CVS-Test an Frauen, die sich ohnehin zu einem Schwangerschaftsabbruch entschlossen haben.

Die Kompetenz der ÄrztInnen hält auch Professor Held vom Institut für Humangenetik an der Hamburger Universitätsklinik für ein entscheidendes Kriterium: „Es kommt immer vor, daß der Eingriff zum falschen Zeitpunkt, mit der falschen Technik oder von den falschen Leuten gemacht wird. Frauen sollten den Arzt fragen, wieviele Eingriffe er selbst schon gemacht hat und welche Komplikationen dabei vorkamen.“ Aber die Kernfrage heißt für ihn: „Besteht überhaupt der Anlaß, eine invasive Diagnostik zu machen? Die erste Alternative, die diskutiert werden muß, ist die, gar keine Diagnostik zu machen. Es ist in jeder Hinsicht Unsinn, Frauen ab 35 routinemäßig zu einer Pränataldiagnostik zu raten.“ Denn: „Keine vorgeburtliche Diagnostik kann die Garantie geben, daß das Kind gesund ist“, sagen übereinstimmend alle HumangenetikerInnen. „Die Entscheidung, ob sie das Risiko einer Pränataldiagnostik eingeht, bleibt der Frau überlassen.“ In jedem Fall sei aber eine ausführliche Beratung durch die ÄrztInnen notwendig — die aber von den Krankenkassen kaum honoriert wird.

Unsicher sind sich die ÄrztInnen aber nun darüber, welches Gewicht sie im Beratungsgespräch der Aufklärung über die neuen Studien geben sollen. Cynthia Kernats hat jetzt gegen den Arzt geklagt, der ihr zur CVS riet. Gegen derlei Haftungsklagen haben sich viele US-amerikanische Krankenhäuser schon abgesichert. In Kalifornien wird die CVS weiterhin als „gute Methode“ empfohlen: in der Einverständniserklärung, die die Frauen vor dem Eingriff unterzeichnen müssen, wird bereits auf das Risiko von Gliedmaßenfehlbildungen hingewiesen.

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