Kurz vor dem Herzinfarkt

■ In den Fünfzigern drückten verschämte Herren die falsche Klingel/ Die Oranienburger Straße ist drauf und dran wieder das zu werden, was sie einst war/ Synagoge wird wieder aufgebaut

Manch Anwohner möchte der Oranienburger Straße heute am liebsten ein Mittel gegen Bluthochdruck verschreiben. Nach der Wende erwachte die Straße aus der Kältestarre — plötzlich war es mit der verstaubten Gemütlichkeit des Realsozialismus vorbei. Was nicht verwunderlich ist, wenn man an die historischen Hypotheken der Straße — Große Synagoge, Passagenkaufhaus, Amüsierviertel — denkt.

Charlotte Weis ist in der Oranienburger aufgewachsen, seit vierzig Jahren lebt sie zwischen Rosenthaler Straße und Oranienburger Tor. »Die Straße hat mir als Kind nicht gefallen. Das Monbijouschloß war abgerissen und die Synagoge kaputt«, erinnert sie sich an die fünfziger Jahre. Nur die legendären Souterrainkneipen, das Café Heuer oder die Pudelbar, sind ihr in Erinnerung geblieben. Und natürlich die gutgekleideten Herren, die an der Haustür der elterlichen Wohnung klingelten, weil sie den »roten Salon« des Stundenhotels suchten, hat Charlotte Weis noch im Kopf. Doch Mitte der Sechziger mußte eine Kneipe nach der anderen schließen. Prostitution wurde nur noch in geringem Umfang geduldet. Die Straße verlor ihr Gesicht, das soziale Leben verdörrte, die markantesten Bauten waren, wenn nicht bereits im Krieg zerstört, spätestens jetzt verfallen. Nur eine Ruine war von der zwischen 1859 und 1866 gebauten »Großen Synagoge« der Jüdischen Gemeinde übriggeblieben.

Kurz nach der 48er Revolution lebten 280.000 Juden in Berlin, etwa vier Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Bis zur Judenverfolgung der Nationalsozialisten war die Oranienburger Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin. Als architektonisches Zeichen der politischen Emanzipation und finanziellen Unabhängigkeit der Jüdischen Gemeinde gebaut, konnte das Bauwerk zwar durch den Einsatz des Polizisten Wilhelm Krützfeld in der Pogromnacht am 9. November 1938 gerettet werden, doch wurde das Symbol assimilierten jüdischen Lebens 1943 durch Bomben zerstört.

Auch das ehemalige »Passagenkaufhaus«, ein 1908 fertiggestelltes Stahlbetongebäude, finanziert von Einzelhändlern, die sich gegen die großen Warenhauskonzerne zusammengeschlossen hatten, war verfallen. Das während der Weltwirtschaftskrise von der AEG übernommene »Haus der Technik« beherbergte nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Oranienburger Tor Lichtspiele und die Josef-Orlopp-Schule. 1989 sollte es gesprengt werden. Im Februar 1990 retteten West- und Ostberliner KünstlerInnen das Baudenkmal, indem sie es besetzten: Das Kulturzentrum Tacheles entstand und wurde, neben der wiederaufgebauten Synagoge im arabisch-maurischen Stil, zum kulturellen Mittelpunkt. Zum Erscheinungsbild gehört auch das Postillionhaus, ein Neorenaissance-Bau mit einer weithin über die Dächer sichtbaren Tambourkuppel. Von 1875 bis 1881 nach Plänen von Carl Schwatlau gebaut, beherbergte es eine Hufschmiede, ein Wagenhaus sowie zwei große Ställe für mehr als 300 Pferde. Schon 1713 stand hier ein Postillionhaus, in dem Postfracht umgeschlagen wurde. 1800 beschrieb Friedrich August Bratring in seinen »topographischen Beschreibungen« der Mark Brandenburg die Oranienburger als eine der schönsten Straßen der Stadt.

Nach dem Schattendasein der vergangenen 30 Jahre ist die Oranienburger drauf und dran, wieder zu das zu werden, was sie einst war. Rüdiger Soldt