Mexiko: Guadalajara Monate nach der Katastrophe

■ Eine Stadt der Täuschungen

Eine Stadt der Täuschungen

Guadalajara (taz) — Der 22.April 1992 war der Tag, den viele Menschen in Guadalajara, der Metropole des mexikanischen Bundesstaates Jalisco, nicht vergessen werden. Seit dem frühen Morgen roch das Stadtzentrum Reforma nach ausgelaufenem Öl. Ein Ereignis, dem die renommierte Tageszeitung Das einundzwanzigste Jahrhundert einen Artikel auf der Titelseite widmete. Darin warnte die Journalistin Alejandra Xanic vor einer möglichen Explosion. Aber die städtischen Behörden wollten davon nichts wissen. Stunden später kam es zu einer Katastrophe, die 200 bis 300 Menschen das Leben kostete, Tausende verletzte, mehr als 1.250 Gebäude und 600 Autos zerstörte und Schäden in Millionenhöhe verursachte. Der Bericht der Staatsanwaltschaft stellte fest, daß Öl der staatlichen Mineralölgesellschaft Pemex durch eine defekte Pipeline in das Abwassersystem gelangen konnte und dort durch eine Zigarette gezündet wurde.

Nach der Tragödie kündigte Mexikos Präsident Salinas de Gortari eine Aufklärung binnen 72 Stunden und schnelle Hilfe für die 10.000 direkt und indirekt Betroffenen an. Köpfe rollten. Bürgermeister Enrique Dau Flores, vier Pemex-Angestellte und drei Mitarbeiter der städtischen Wasserwerke SIAPA wurden festgenommen. Der Gouverneur von Jalisco, Cosio Vidaurri, mußte seinen Hut nehmen.

„Wir wissen alle, daß Pemex schuldig ist“, sagt Hector Fernandez Acosta, Leiter der kirchlichen Organisation Caritas. Für Jorge Zepeda, Direktor der Zeitung Das Einundzwanzigste Jahrhundert, gibt es zwei Verantwortliche: „Pemex ist für die durchgerostete Pipeline verantwortlich und die Regierenden für die mangelnde Zivilcourage nach der Katastrophe.“

Führungskräfte des Konzerns streiten dennoch die Verantwortung ab. „Die Bevölkerung war von Anfang an überzeugt, daß Pemex schuld an der Explosion ist. Das ist ungerecht“, sagt Roberto Franco, Pressesprecher von Pemex. Dennoch erklärt die Ölfirma öffentlich: „Unabhängig von dem abschließenden Untersuchungsverfahren unterstützt Pemex die Betroffenen moralisch und finanziell. Da Pemex ein Unternehmen ist, das den Mexikanern gehört, wird es einen Teil seiner Gewinne dazu einsetzen, die entstandenen Schäden zu beheben.“

Das vom Konzern zur Verfügung gestellte Geld, etwa 50 MillionenDM, wurde jedoch nachträglich als Leihgabe deklariert. Die Opfer sind empört: „Wenn mir jemand mein Auto anfährt“, so Sergio Gomez Partida, Sprecher der Bürgerbewegung für den Wiederaufbau, „hilft es mir, wenn derjenige mir Geld leiht. Aber die Versicherung muß trotzdem für den Schaden aufkommen.“

Pemex hat jedoch in einer Vertragsklausel festgelegt, daß diejenigen, die eine Zahlung erhalten, auf weitere Ansprüche verzichten müssen, auch wenn nach Abschluß des Gerichtsverfahrens Pemex öffentlich angeklagt würde. Diese Praxis der Entschädigungszahlungen verärgert und enttäuscht die Betroffenen nur. Einen Monat nach der Katastrophe wurde eine staatliche Organisation, das Patronat, gegründet. Sie hat den Auftrag, die Rechte der Geschädigten zu vertreten, Schätzungen vorzunehmen und alles für den schnellen Wiederaufbau der Region zu tun. Gabriel Covarrubias Ibarra, der Leiter des Patronats, muß sich jedoch starker Kritik erwehren. Ihm wird vorgeworfen, autoritär und unflexibel zu sein und Delegierte der Bürgerinitiativen bestochen zu haben. Während zwar Entschädigungen für Todesopfer gezahlt wurden, erhielten die mehr als 80 Menschen, die sich noch immer in medizinischer Behandlung befinden, bislang nichts. 600 Mietparteien leben in Zelten und provisorischen Unterkünften, weitere 600 haben erst 500DM oder weniger bekommen. In einer Petition, die Vertreter der Bürgerinitiativen letzte Woche dem Präsidenten überreichten, sprechen sie gar von Drohungen seitens der Behörden, die Entschädigungszahlungen ganz einzustellen. Und die mexikanische Menschenrechtsorganisation CNDH meldete Übergriffe gegen friedliche Demonstranten, die Ende Mai vom neuen Gouverneur Taten verlangten. „Ist das Geld vom Staat im Bermudadreieck verschwunden?“, fragt Gomez Partida. Er weiß, daß noch mehr als 600 Millionen DM für den Wiederaufbau des Zentrums fehlen. Der neue Interimsgouverneur Jaliscos, Carlos Rivera Aceves, sieht die Situation optimistischer. „In sieben Monaten werden die Straßen wieder asphaltiert sein. Der Wiederaufbau der Häuser wird zwar etwas länger dauern, aber ich sehe die Situation mit Gelassenheit.“

„Guadalajara ist die Stadt der Täuschungen“, sinniert der Journalist Alain Derbez. „Die Stadt, die im kommenden Jahr, einen Tag vor San Georg (am 22.April), die Verantwortungslosigkeit, die Schlamperei, die Opferung von Sündenböcken und die Handlungslosigkeit in einem offiziellen Akt feiern wird, damit die politischen Ergebnisse für die Regierenden positiv aussehen.“ Ute Sturmhoebel