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WOLLUST DES DAHINROLLENS

■ Mit einem Automobil von Berlin nach Italien, anno 1902

Mit einem Automobil von Berlin

nach Italien, anno 1902

VONWERNERTRAPP

„Leute, die sich unter dem Schabmesser des Barbiers befinden, enteilen ihm, die Serviette unterm Kinn, die eine Seite noch eingeseift, die andere halb rasiert, und der Barbier fuchtelt hinter ihnen ekstatisch mit dem Messer in der Luft herum, uns auf diese Weise temperamentvoll begrüßend; ein Junge von dreizehn Jahren etwa, eben im Begriffe, sich die Hosen anzuziehen, hört uns vorbeifahren und läßt die Hosen, lieber nacktbeinig als gar nicht hinter uns herzulaufen; ein andermal hat einer zwar eine Hose, aber sonst gar nichts an; die urältesten alten Weiber humpeln herbei, und die Säuglinge werden aus dem Steckkissen genommen und hochgehoben, damit sie die ,Benzina‘ sehen können — kurz, wir werden als Schauspiel betrachtet, das zu versäumen niemand gewillt ist.“

Als der deutsche Schriftsteller Otto Julius Bierbaum im Sommer des Jahres 1902 mit einem Automobil im Süden Italiens unterwegs ist, braucht er sich über einen Mangel an Aufmerksamkeit nicht zu beklagen. Im Gegenteil: „Sich drei Monate lang durch fortgesetzte Benzinexplosionen vorwärtsbewegen zu lassen“, und zwar von Deutschland bis in den Süden Italiens, das war zu Beginn unseres Jahrhunderts ein Ereignis von solchem Sensationswert, daß der berühmte Verlag Scherl in Berlin ohne weiteres bereit war, Bierbaum und seiner italienischen Gattin nicht nur einen einzylindrigen Wagen der Marke Adler, sondern auch einen kundigen Chauffeur zu stellen. Diesem Arrangement verdanken wir ein erstmals 1903 unter dem Titel „Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein in Briefen an Freunde beschrieben“ erschienenes Buch, das zugleich den Grundstein legte für ein neues Genre der Reiseliteratur: das Automobil-Reisebuch, jene in meist fotografisch illustrierten Büchern vorgestellte automobile Eroberung der Welt, die in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts einen Boom erlebte.

Doch Bierbaum ist der erste, der mit seinem Buch die Erfahrungen einer automobilen Fern- und Ferienreise literarisch verarbeitet zur Momentaufnahme einer epochalen Erfahrung: die Beschreibung einer motorisierten Reise an der Schwelle des automobilen Zeitalters und im gleichen Atemzug ein Psychogramm der Empfindungen beim Umgang mit dem neuen Instrument der Mobilität. Seine „empfindsame Reise“ ist dabei kein Auto-Reisebuch der später üblichen Art, ihm geht es nicht, wie so vielen Automobilisten der Frühzeit, um sportliche Höchstleistungen und Kilometer-Rekorde. Er propagiert vielmehr eine neue Kunst, ja eine Utopie des Reisens — in bewußter Absetzung nicht nur von der Kultur der Eisenbahnreise, sondern auch von den automobilen Leitbildern und Tendenzen seiner Zeit. Und er liefert zugleich einen Beleg für jene tieferen, magischen Erlebniswerte automobilen Reisens, deren Formation zum kollektiven Bedürfnis am Ende auch seine eigene Utopie dementieren sollte.

Befreiung vom Reglement des Fahrplans

Schon bei der Zusammenstellung des Reisegepäcks notiert Bierbaum eine für die Zukunft wegweisende Erfahrung: Obwohl der kleine Adlerwagen nicht für lange Reisen und damit auch nicht für die Mitnahme größerer Mengen an Gepäck konzipiert war, hat das Ehepaar Bierbaum doch nahezu alles dabei, was auf einer dreimonatigen Reise von Nutzen sein könnte, einen Speisekorb mit Geschirr und eine Gummibadewanne inklusive: „Aber welche Wollust liegt in dem Gedanken: Wir werden es nie ,aufzugeben‘ brauchen!“ Nie mehr von der Angst geplagt zu werden, einen Zug zu verpassen, nie mehr darauf achten zu müssen, ob der Dienstmann am Bahnsteig auch Hutschachteln und Schirm erwischt hat, kurz: In der Befreiung vom „Reglement des Fahrplans“ entdeckt er den ersten großen Vorzug des Automobils. Das neue Gefühl von Freiheit steigert sich zum vernichtenden Urteil über die Eisenbahnreise schlechthin: „Wir werden nie Gefahr laufen, mit unausstehlichen Menschen in ein Kupee gesperrt zu werden“, wir werden „selber bestimmen, ob wir schnell oder langsam fahren, wo wir anhalten, wo wir ohne Aufenthalt durchfahren wollen“. Die Topoi der Bierbaumschen Kritik an der Eisenbahn, welche die „Kunst des Reisens vernichtet“, die Menschen zu „Kistenreisenden“, zu bloßem „Transportgut“ degradiert habe, sind nicht neu — sie zählen vielmehr zum Kernbestand literarischer Eisenbahnerfahrungen des 19.Jahrhunderts. Der englische Schriftsteller John Ruskin sprach von „menschlichen Paketen, die sich per Eisenbahn selber an ihren Bestimmungsort schicken, an dem sie (...) ankommen, unberührt vom durchquerten Raum“. Eichendorff beklagte, diese Dampffahrten rüttelten „die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden“, Flaubert gar „langweilte sich derart in der Eisenbahn“, daß er „nach fünf Minuten zu heulen begann“.

Doch mit dem Automobil schien nun ein gänzlich neues Fortbewegungsmittel zur Verfügung zu stehen, das versprach wiederzugewinnen, was man durch die Eisenbahn verloren hatte: „Wir wollen wirklich wieder reisen, als freie Herren, mit freier Bestimmung in freier Luft... Wir werden nicht mehr gereist — wir reisen wieder selbst.“

Es ist dieses Moment der selbstbestimmten Bewegung, der freien Entscheidung über Fahrtroute, Geschwindigkeit, Abstecher und Zwischenhalte, der freien Beherrschung von Raum und Zeit, welche das Automobil als technische Errungenschaft bald zum Inbegriff industriellen Fortschritts und bürgerlicher Freiheit schlechthin werden läßt. Damit wird zugleich ein Begriff von Freiheit etabliert, der noch siebzig Jahre später in der Maxime eines großen deutschen Automobilklubs seine Geltung behauptet hat.

Doch Bierbaum ist kein simpler Apologet des freien Fahrens. Er will „mit dem modernsten aller Fahrzeuge auf altmodische Weise reisen“, er propagiert einen neuen Kult der Langsamkeit. Seine Devise lautet: „Lerne zu reisen ohne zu rasen“, und sein Gefährt nennt er liebevoll „Laufwagen“ — im bewußten Gegensatz zum automobilen Zeitgeist, der dem Idol des „Rasewagens“ hinterherjagt. Damit verbindet sich für ihn eine neue Qualität der Wahrnehmung von Landschaft und Natur: Die „empfindsame Reise im Automobil“ bedeutet nichts anderes, als daß „die Kraft des Empfindens, der Aufnahme und des Verarbeitens, Sichzueigenmachens von äußeren Eindrücken gesteigert wird“. So paradox es klingen mag: Bierbaum sieht die Überlegenheit der Automobilreise gegenüber der Reise mit der Bahn gerade in der Wiederentdeckung der Langsamkeit.

So gibt man sich dem Landschaftsgenuß hin bei der Fahrt durch den Wiener Wald, macht des öfteren halt „zu ruhiger Umschau“, und auch das „breite Adagio“ der Reise im Gebirge, wo es nur langsam vorangeht, wird keineswegs als störend empfunden, sondern benutzt, um — wie zwischen Faenza und Florenz — „die sehr merkwürdige Landschaft ausgiebig zu betrachten“.

Dämonologie des Laufwagens

Schon die Tücken der noch jungen Technik jedoch, die vielen Pannen unterwegs, zeigen an, daß die Reise im Autombobil nicht einfach zurückführt in längst vergangene Zeiten. Immer wieder beklagt man den „äußerst schlechten Zustand der Straßen“, die so „pneumatikmörderisch“ sind, daß es des öfteren gilt, „einen arg zerfetzten Hinterradmantel zu ersetzen“. Defekte an der Zündung zwingen bisweilen zur vorzeitigen Aufgabe des Tagesziels, und in Salzburg macht man peinliche Bekanntschaft mit der „Dämonologie des Laufwagens“, dessen „Auspuffrohr viel häufiger Schüsse abgab, als uns lieb war“. Auch erweisen sich die Bremsleder angesichts der vielen Bergstrecken als viel zu verschleißanfällig, und bei der Abfahrt von San Marino hätte die Reise beinahe ein vorzeitiges Ende genommen, wenn es dem Maschinisten nicht gelungen wäre, das Auto durch die bewußt herbeigeführte Kollision mit einem Steinhaufen am Wegesrand unsanft abzubremsen.

Neue Kunst des Reisens

Doch der Ärger über gelegentliche Pannen verblaßt gegenüber einem historisch völlig neuen, bisher nie gekannten Glücksgefühl, welches sich beim Fahren im Automobil einstellt: „Ja, wenn es ein Rausch ist, der mich jetzt so heiter macht, so ist es der Bewegungsrausch“, der „Reiz, im offenen Wagen mit schnurgerader Chaussee dahinzurollen“, so notiert Bierbaum schon nach wenigen Tagen. „Wer die Wollust des Dahinrollens kennt, ersehnt nicht mehr die Kunst des Fliegens — fest auf der Erde, aber wie im Sturme dahin!“ Mehr noch als von der neuen Qualität landschaftlichen Erlebens ist auch Biermann fasziniert von der Freude am Fahren an sich, vom Genuß der Macht über die Maschine, vom Gefühl einer neuen Souveränität über Raum und Zeit, das sich immer wieder steigert zur schieren Euphorie, „wenn der Wagen im schönsten Rhythmus glatt dahinrollt, daß das Fahren allein schon eine Lust war“.

Hier meldet sich — gegen das eigene Postulat des langsamen Reisens — erstmals ein Bedürfnis, das konstitutiv wird für die Kultur des automobilen Zeitalters und das bis heute stärker scheint als alle Schattenseiten der Autogesellschaft zusammengenommen: das Fahren an sich wird zum lustvoll erlebten Selbstzweck.

Kolonisatorischer Ehrgeiz des Pioniers

Doch sind es nicht nur die Wollust des Dahinrollens und der Rausch der Geschwindigkeit, die dem automobilen Literaten zum Quell der Befriedigung werden. Er genießt die Anerkennung als „Pionier“, als einer, der es wagt, eine von der Masse noch argwöhnisch beäugte Technik zu erproben. Selbst in einer großen Stadt wie Venedig, so bemerkt der Autor, „riß der Anblick unseres Wagens alt und jung zu lauten Äußerungen der Bewunderung hin“: „Evviva!“ und „Buon Viaggio!“ ruft es allenthalben, und je mehr man nach Süden kommt, desto größer offensichtlich das Aufsehen: „Evviva la Benzina!“ Kurzerhand nennen die Leute das Gefährt nach dem Stoff, der es in Bewegung hält: „Evviva gli signori!“ Dem „Maschinisten“ wird dabei die größte Bewunderung zuteil: „Ein Riese! Ein deutscher Riese! Und was er alles kann! Seht, der versteht's zu fahren. Er allein lenkt diesen Wagen und läßt ihn jetzt schnell, jetzt langsam fahren. Das will gelernt sein! Das ist mehr als Gras mähen!“ Ja, allerorts bedeutet die Begegnung mit Bierbaums Adlerwagen für die Menschen die erste Bekanntschaft mit einem Automobil. In Nola, einem kleinen Nest zwischen Neapel und Rom, eilte alles herbei, „um uns zu betrachten und mit uns zu konversieren, denn hier war noch keine ,Benzina‘ durchgekommen, und so genossen wir das Hochgefühl, als Neuheit behandelt zu werden, und es ging ein andächtiges Gemurmel durch die Menge“.

Die Kolonialisierung des vom Auto bislang noch unberührten Raumes mündet so in die „Kolonialisierung der Wünsche“, in das Bedürfnis, sich irgendwann einmal selbst auf diese Art und Weise fortzubewegen. Und dem Herren der Maschine gibt diese Erfahrung das befriedigende Gefühl, gleich im doppelten Sinne der erste zu sein.

Motorisierte Erstbesteigung

Dieses Bedürfnis zu wecken wie zu stillen, war wohl kein Hindernis geeigneter als der Berg, die Höhe, in der noch keiner war. Was die frühen Alpinisten mehr als einhundert Jahre zuvor nach oben getrieben hatte, kehrt nun wieder in gleichsam säkularisierter, technischer Form: Die Freude an der automobilen Penetration bislang noch unberührter Landstriche steigert sich zu höchster Erfüllung im Erlebnis einer motorisierten Erstbesteigung. Der Berg als erotische Herausforderung will nicht mehr durch physische Anstrengung, sondern durch maschinelle Potenz bezwungen sein. Zum Testfall gerät bereits die Abfahrt auf die italienische Republik San Marino, die, auf einer nur über spitzkehrige Serpentinen zu erreichenden Höhe gelegen, „ganz so tat, als wollte sie, die nie eroberte, sich selbst der Eroberung durch das Automobil widersetzen“. Der ersehnte Triumph jedoch schlägt um in leisen Frust, denn „der Ruhm, San Marino als erstes Automobil genommen zu haben“, gebührt nicht Bierbaum, sondern einem Wagen des Herzogs Strozzi von Florenz.

Was jedoch bedeutete die Höhe von San Marino gegen den Gotthard, jenen einzigen Schweizer Gebirgspaß, dessen „Überschreitung mit Motorwagen gestattet“ sei? Um so mehr, als diese Erlaubnis erst seit Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

kurzem gelte. Den „Gotthard glatt genommen“ zu haben, wird so zum großen Triumph der Reise, auch wenn man über die 136,4 Kilometer lange Strecke von Bellinzona nach Brunnen gut neun Stunden benötigt.

Doch die aus Italien gewohnte Automobilbegeisterung sucht Bierbaum in der Schweiz vergeblich. Statt dessen trifft man, besonders ab Andermatt, auf eine Vielzahl von Wagen mit Schweizer Kutschern, „die es für wichtiger halten, ausgiebig und laut zu schimpfen, statt sich um ihre Pferde zu kümmern“. Zwar gelangt man noch „glücklich, ohne irgendein Pferd des Kantons Uri in ernstliche Verlegenheit gesetzt zu haben“, bis Göschenen — doch dort ereilt den deutschen Laufwagenreisenden sein Geschick. Es hatte die Gestalt eines „überlebensgroßen Polizisten, der sich wie ein Turm breitbeinig vor uns aufpflanzte“ und mit einem gebieterischen: „Aahalte! Uschtiege!“ der Reise ein abruptes Ende setzte. Grund für die unerwartete polizeiliche Intervention: Die Polizei von Andermatt habe nach Göschenen telegraphiert: „Automobil hier durchgefahren — unmöglich, es aufzuhalten.“ Und verdutzt erfährt der zwar kleinere, aber nicht weniger gewichtige Deutsche aus dem Munde des Urner Polizeiriesen, daß es zwar — es lebe der Schweizer Föderalismus! — erlaubt sei, den Gotthard mit einem Automobil zu befahren („das mögen Sie mit dem Kanton Tessin ausmachen, der das erlaubt hat!“), daß es im Kanton Uri aber nur gestattet sei, ab Göschenen weiterzufahren. Der Herr hätte sein Gefährt auf der Strecke Andermatt— Göschenen eben durch ein Gespann kräftiger Urner Ochsen ziehen lassen müssen! Die etwas verdatterten Herrschaften kommen zwar noch einmal mit einer Buße von zwanzig Franken davon, nicht ohne jedoch am Ende „durch das riesige Organ der Sicherheit von Uri“ mit der Mahnung bedacht zu werden: „Schritt fahren, oder in jedem Falle sechs Franken Buße!“

Präautomobile Verkehrskultur

Das jähe Ende der automobilen Freiheit des deutschen Schriftstellers Otto Julius Bierbaum im urnischen Göschenen ist nicht bloß ein zu belächelndes Kuriosum: Hätte dieser den Heimweg über Graubünden gewählt, so wäre er wohl frühzeitig zur Umkehr gezwungen gewesen. Der Kleine Rat dieses Kantons nämlich hatte bereits zwei Jahre zuvor, am 17.August 1900, unmißverständlich beschlossen: „Das Fahren mit Automobilen auf sämtlichen Straßen des Kantons Graubünden ist verboten.“ Ein Verbot, das gegen den Willen von Regierung, Industrie und Hotellerie bis zum Jahre 1925 Bestand hatte und in Volksabstimmungen immer wieder eindrucksvoll bestätigt wurde. Bierbaum bewegt sich also in einer noch weitgehend vorautomobilen Verkehrskultur, in einem sozialen, kulturellen und verkehrspolitischen Umfeld, welches gerade erst anfing, sich mit der technischen und kulturllen Revolutionierung menschlicher Mobilität auseinanderzusetzen. Als er zum Beispiel in Velletri genötigt ist, Benzin zu kaufen, nimmt ihm der „Herr Apotheker mehr als das Doppelte dessen ab, was er füglich als Mann von Redlichkeit hätte verlangen dürfen.“ Der Treibstoff der neuen Mobilität wurde also noch literweise in Apotheken und Drogerien verkauft, und gegen den Nepp der italienischen Apotheker blieb nur die Hoffnung, daß „der sehr rührige Touring-Club Italiano bald überall seine Benzinniederlagen errichtet haben wird, die diese Essenz zu dem Einheitspreis von einer Lira abgeben“.

Aber auch die eher negativen Reaktionen auf die „Benzina“ zeigen, daß von einer automobil-zentrierten Verkehrskultur um 1900 noch keine Rede sein konnte. Denn es war beileibe nicht nur Aufsehen oder Bewunderung, welche die Chaise auf ihrer Fahrt provozierte. Am Ende seiner Reise räsoniert Bierbaum ebenso freimütig wie konsterniert: „Nie in meinem Leben bin ich soviel verflucht worden, wie während meiner Automobilreise 1902. Alle deutschen Dialekte von Berlin an über Dresden, Wien, München bis Bozen waren daran beteiligt und alle Mundarten des Italienischen von Trient bis nach Sorrent — gar nicht zu rechnen die stummen Flüche, als da sind: Fäusteschütteln, Zungeherausstrecken, die Hinterfront zeigen und anderes mehr.“ Der Umgang mit dem modernen Vehikel der Mobilität war noch längst nicht selbstverständlich.

Feigenblätterunfug in Florenz

Wer bis dahin glaubte, der moderne Tourismus sei im wesentlichen eine Folge der Verbreitung des Automobils, der wird durch Bierbaums Reisebriefe eines Besseren belehrt. Denn wo immer er in Italien ein „klassisches“ Reiseziel ansteuerte, da hat die Tourismus-Industrie bereits ganze Arbeit geleistet. Das beginnt schon in Venedig, dessen „rapider und völliger Verfall nur noch durch die Fremden selbst hintangehalten werde“, wobei es gerade die Fremden sind, welche die Stadt um ihre letzten authentischen Reize bringen. Das „Tingeltangel auf dem Canale Grande“, das sich allabendlich vor seinem Hotel abspielt, ist ihm dafür nur ein besonders luzides Beispiel: Eine „Bande von Gitarrenrupfern und Sängern“ ist da am Werke, um sich bis nachts um zwölf im „Herunterleiern von allerlei Musik“ zu üben. Die „angelsächsischen Vettern mit ihren Damen“ jedoch sitzen applaudierend auf der Hotelterrasse und halten diese Komödie für etwas sehr Venezianisches! Da hilft auch der Wechsel vom „Grand Hotel“ zum „Albergo de Milan“ nichts mehr: Der Genuß der schönen Stadt wird ihm vergällt, „weil die einzige Industrie, die es gibt, allzu eifrig gepflegt wird — die Fremdenindustrie.“

Doch auch in Florenz angekommen, stößt der Reisende auf die neuesten Hervorbringungen des touristischen Zeitgeschmacks, „die abscheuliche Art, mit der hier Werke der Kunst durch Erzeugnisse der Klempnerei verunstaltet werden“, sobald sie nackte männliche Figuren darstellen. Dieser „Feigenblätterunfug“ gehe auf die „Verschämlichkeit von Engländerinnen“ zurück, die erklärt hätten, keinen Fuß in die Stadt zu setzen, auf deren öffentlichen Plätzen unbekleidete männliche Statuen zu sehen seien“.

Neuerliches Ungemach erwartet den deutschen Reisenden am Fuße des Vesuvs: „Vom Vesuv ist zu melden, daß er nicht im mindestens spuckt. Er raucht nicht einmal.“ Dabei war er doch bis dato auf sämtlichen Photographien und Ansichtskarten stets mit einer mehr oder weniger mächtigen Rauchsäule zu sehen gewesen! Doch diese entpuppt sich nun als billige Kunst professioneller Retuscheure. In fast schon trotziger Ironie notiert er in einem Briefe an Frau Marie Immerwahr in Berlin: „Ich verlange ja keinen direkten Ausbruch, aber bloß dazustehen wie jeder andere Berg, ohne die geringste Rauchsäule, das ist für einen allgemein anerkannten und im Baedecker mit zwei Sternen versehenen Vulkan entschieden zu wenig!“ Bierbaum ist geneigt zu glauben, daß „Herr Thomas Cook, der alles Geschäftliche, was den Vesuv und seinen Besuch angeht, in Monopol genommen hat, ihn nur in der eigentlichen Saison funktionieren läßt“.

Der Besuch der Insel Capri setzt dem Erlebnis touristischer Entwertung seiner Reiseziele nur noch die Krone auf: Hotels und Pensionen, in denen es von Deutschen wimmelt, kleine Capresen, die statt „Addio“ artig „Auf Wiedersehen!“ sagen und die Ausfahrt eines Schiffes am Hafen mit einem „Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus“ begleiten.

Kurz: Des Automobils, der Reise im Automobil bedurfte es längst nicht mehr, um den modernen Tourismus mit all seinen Begleiterscheinungen nach Italien zu bringen. Bierbaum ist zwar ein Pionier des automobilen Reisens, ein Pionier des Tourismus ist er nicht.

Fliegengesumm der Fremden

Doch Otto Julius Bierbaum macht eine für die Geschichte touristischer Mobilität im 20.Jahrhundert folgenreiche Entdeckung: Schon nach dem verpatzten Aufenthalt in Venedig schreibt er von der Vorfreude, „morgen wieder ins Leben hinauszufahren, aus dieser sterbenden Stadt mit ihrem Fliegengesumm von Fremden“. Mögen sich doch die Fremden dort stauen, wo Bahnen und Schiffe sie hinbringen — ich, Otto Julius Bierbaum fahre in Gefilde, die noch kein Tourist gesehen hat, halte mich schadlos an Gegenden, in denen ich „vor den Herden des Herren Thomas Cook“ sicher sein kann!

Die epochalen Folgen dieser Entdeckung sind bekannt. Und doch sollte noch einmal mindestens ein halbes Jahrhundert vergehen, bis auch der breiten Masse das Privileg vergönnt war, die Bierbaumschen Fluchten per Automobil nachzuvollziehen.

Suche nach dem Duft der Pflaume

Bierbaums Buch an den heutigen Folgen zu messen, wäre indes allzu billig, ihm vorzuhalten, daß der Umschlag der automobilen Freiheit in die kollektive Selbstblockierung die wichtigsten Elemente seiner Utopie dementiert hat, allzu banal. Beruhte doch sein Plädoyer für eine neue Langsamkeit des Reisens auf Prämissen, die schon durch die Entwicklungen im zeitgenössischen Automobilbau widerlegt wurden. Dessen Prinzip des „komfortabler, größer, stärker, schneller“ hat wie die Evolution der Verkehrstechnik insgesamt die Kunst des Reisens als bewußtes „Erleben des Zwischenraumes“ reduziert auf den kollektiven Wunsch, bloß noch anzukommen, und das möglichst schnell. Müßte Herr Bierbaum heute noch einmal von Berlin nach Sorrent, würde er vermutlich — wie wir auch — nachts fahren, im Schlafwagen oder auf der Autobahn, weil das schneller geht und dazu noch einen zusätzlichen Urlaubstag beschert. Fast ein Jahrhundert lang schienen die Produzenten von Verkehrsmitteln und Verkehrswegen bestrebt, diesem Bedürfnis, möglichst schnell anzukommen, mit wachsender Perfektion Rechnung zu tragen. Zumindest auf den Straßen der Gegenwart hat dieses Bemühen dazu geführt, daß wir — wenn auch unfreiwillig — offenbar doch noch gute Chancen haben, das Bierbaumsche Postulat des langsamen Reisens einzulösen: Für die 135 Kilometer lange Strecke von Salzburg nach München benötigte dieser, „da es Sonntag war und die Straße keinen Fuhrverkehr hatte, sodaß wir schlankweg fahren konnten“, fünfeinhalb Stunden. Gegenwärtig scheinen wir auf dem besten Weg, uns wieder an Fahrzeiten dieser Dimension zu gewöhnen. Wir haben dort zwar inzwischen eine Autobahn, auf dieser „schlankweg zu fahren“ ist uns gleichwohl nicht vergönnt. Und statt, wie Bierbaum noch hoffte, im Automobil „dem Duft der Pflaume“ zu begegnen, schließen wir die Fenster, um uns den Duft der „Emissionsschlange“ vom Leibe zu halten.

Daß es am Ende vielleicht doch nichts würde mit dem Traum von einer auto-mobilen Reisegesellschaft, das schwante schon ihrem ersten Protagonisten: „Auch sollten Sie dann“ — so empfahl Bierbaum seinem Freunde Felix vom Rath in München die Planung einer Italienreise — „gleich uns, im Sommer reisen, wo man die herrlichen Straßen ganz für sich alleine hat und sicher ist, keinem anderen Automobil zu begegnen. Wegen des Staubes ist das ein recht angenehmer Umstand, wie denn, glaub ich, in künftiger Zeit, wenn das Reisen im Automobil die Regel sein wird, diese Art des Reisens nicht mehr ganz so schön sein dürfte. Viele Automobile hintereinander — ich danke!“

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