Broadway Danny Cohn

Keine einbeinigen Steptänzer, aber sowjerikanische Taxifahrer, puertorikanische Transvestiten und andere Traumgestalten von der Straße: Nik Cohn und sein Buch über den Broadway  ■ Von Thomas Groß

Altern ist keine leichte Sache, besonders im Rock- Business. Eines Tages wacht man auf und versteht die Welt nicht mehr. Zuviele neue Gruppen, zu wirre Trends und Moden. Plötzlich kann es einem passieren, daß die Jugend nicht mehr weiß, wer „My Generation“ geschrieben hat, auf Elvis oder die Beatles tippt, und selbst sachlicher Aufklärung gegenüber merkwürdig reserviert bleibt. Pete Townshend? Wirklich? — „Wußte ich doch, daß es einer von diesen toten Opas war.“

Nik Cohn hat gelernt, es mit einem gewissen Humor zu tragen. Der Junge von heute, den er auf Seite 220 seines neuen Buchs zu Wort kommen läßt, kann ja nicht unbedingt wissen, was das Stück für eine Bedeutung hatte, damals, in den Sechzigern, als Cohn der Starschreiber von Swinging London war. New journalism der ersten Stunde, immer nah dran an der Oberfläche, nah dran am sound, aber auch immer schon „literarisch“ ambitioniert. Erste Buchveröffentlichung mit 18, danach zwei Romane, mit 22 Autor einer der ersten Geschichten des Rock‘n'Roll („A Wop Bopa Loo Bop A Lop Bam Boom“), ein Wunderkind, berühmt, verhätschelt und des ganzen Rummels bereits ein wenig überdrüssig — „hope I die before I get old“.

Es kam natürlich anders, der in Irland aufgewachsene Cohn ging Ende der Sechziger, zwei Jahre vor John Lennon, nach New York, schrieb dort frühe Zeitgeist-Stories, lieferte mit einer Titelgeschichte für den New Yorker (unfreiwillig) die Vorlage für den Film „Saturday Night Fever“ — und machte nicht schlecht Geld damit. Danach das übliche: Lebenskrise, Schaffenskrise, Drogenprobleme. „Toter Opa“ eben. Zehn Jahre hat Cohn nichts geschrieben. Was macht ein Mann, der zehn Jahre nichts geschrieben hat und es nochmal wissen will? Er schreibt einen Klassiker.

Alle machen das. Brodkey zum Beispiel mit seinen „Nahezu klassischen Stories“ (nebst sagenumwobenem Romanprojekt). Oder Tom Wolfe, der amerikanische Konkurrent, der mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ auf seine alten Tage noch einmal einen ganz großen Coup landete. Selbst Lou Reed versteht sich mittlerweile mehr als Literat denn als Rockmusiker, schreibt hochambitionierte poetry und vergleicht sich gerne mit Dostojewski. Und alle haben sie nur ein Thema: Amerika, insbesondere New York am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Stadt, so korrupt und sozial desintegriert wie Gotham City, bloß ohne Superretter in Sicht.

Was lag also näher, als sich zu eigenen Walks On The Wild Side aufzumachen? „Dieses Buch ist der subjektive Bericht eines Broadway-Spaziergangs, der mich von der Battery in Richtung Bronx führte“, schreibt Cohn in einer Vorbemerkung, und tatsächlich ist es nicht mehr als das. Aber eben auch nicht weniger.

Schon der Titel ist frech: „Das Herz der Welt“. So heißen heute Hollywood-Filme, zweifelhafte Fernsehserien und Schundromane, Pop-Produkte, die man in Bahnhofsbuchhandlungen mitnimmt und nach dem Gebrauch wegschmeißt. Wenn noch etwas übrig ist von Nik Cohns früher Schule, so eben diese nicht unsympathische Affinität zum Boulevardismus. Grundlage seines Realismus ist das Aufgeschnappte. Anders als Wolfe erfindet Cohn auf seinem Weg in die übel beleumundeten Stadtteile nicht erst ein fiktives Yuppie-Pärchen, das die falsche Abzweigung nimmt. Es ist der Autor selbst, der seine authentischen Erlebnisse zu Markte trägt — wenigstens gibt er sie als solche aus. Cohn hat sich für seine Recherchen in einem billigen Hotel am Times Square eingemietet. Dort und auf seinen Streifzügen den Broadway entlang sammelt er die Lebensgeschichten der Figuren, auf die er trifft. „Schicksale“, würde man sagen, hörte es sich nicht so dämlich an im Zeitalter von Time-Life und Bild. Einmal mehr ist der Asphaltliterat der Kolporteur sagenhafter Wahrheiten. Alles wie im Film, alles wie im richtigen Leben.

Der erste in der Reihe ist Sasha Zim, ein sowjetischer Einwanderer aus Moskau, „Gottes Promenadenmischung“ und somit bereits der Prototyp all jener Gestalten, die bei Cohn ihren mehr oder minder farbigen Auftritt haben. Zim ist auf der Straße und in Kneipen zu Hause. Sein Englisch hat er aus dem Hausfrauenprogramm im Fernsehen, sein Geld verdient er als Cab Driver, und zwar weniger aus Verlegenheit als aus Überzeugung: Wie viele sentimentale Schlucker vor ihm betrachtet auch er das Taxi als eine Art Universität des Lebens.

Beste Voraussetzungen für einen Fremdenführer. Zim begleitet Cohn auf seinen ersten Streifzügen ins Dickicht der Stadt. Er zeigt ihm die Taschendiebe, die den Blick der Touristen auf die Freiheitsstatue für ihr Geschäft ausnutzen, die Treffpunkte und einschlägigen Lokale; er schleppt ihn in die Seitenstraßen des Broadway und bringt ihn mit allerlei Volk in Kontakt. Zwischendurch taucht er unvermutet ab, aber immer wieder begegnen sie sich an irgendeinem Knotenpunkt, etwa im „Plum Blossom“, wo sie — Nighthawks at the Diner — ein spätes Abendessen zu sich nehmen. Wenn man Glück hat oder Pech, je nach Blickwinkel, sind draußen Bandenkämpfe zu sehen. „Ganze Welt geht Teufel“, sagt Cohns Schutzengel in Bomberjacke dann, „und Zim ißt Suppe“.

Sasha Zim ist auch der erste, dem Lush Life über den Weg läuft, ein magerer Transvestit mit spanischen Wangenknochen und dunkler Haut, ein Wesen wie aus Prince' Paisley Park. Der dramaturgische Zufall will es, daß Lush Life in Cohns Abbruchhotel ein Zimmer hat, so kann sie ihm ihre Lebensgeschichte bei Kerzenlicht und Night Train-Whiskey in die Feder diktieren: als Geraldo Cruz in New Jersey geboren, Rausschmiß von zu Hause, als sie das erste Mal in Frauenkleidern erwischt wurde; an den Broadway gekommen, weil sich hier ein Nischchen für ihre Neigungen zu bieten schien.

Gegen Ende der rund 400 Seiten hat Lush Life eine Romanze mit — ausgerechnet — einem all american boy vom Lande — die natürlich kein gutes Ende nimmt. Geraldo Cruz' Bericht ist, neben Sasha Zims Führungen und Lebensansichten, auch schon die einzige Klammer, die das 400-Seiten-Epos zusammenhält. Der Rest ist rein episodischer Natur: Begegnungen mit Straßenjugendlichen, Hiphop-Predigern, chinesischen Hinterhofheiligen, irischen Witwen, mit verlorenen Töchtern und siebten Söhnen von siebten Söhnen, mit versoffenen Brokern, ehemals bekannten, aber mittlerweile ruinierten Kommunalpolitikern und ausrangierten Preisboxern.

Es sind die Schlechtweggekommenen, die low lifers, mit denen Cohn schreibend fraternisiert. Aus unterschiedlichen Gründen hat der Broadway sie angelockt und trotz ihrer Anonymität einander näher gerückt. Deshalb auch die pathetische, im Grunde bodenlose Metapher vom „Herz der Welt“: der „Great White Way“ als Ort, an dem der amerikanische Traum sich noch großzügig gibt, mit den Unterröcken wedelt und jedem seine Chance verspricht.

„Am Broadway ließ man das Glücksrad herumwirbeln — wenigstens glaubte man das. In Wirklichkeit wurde man selbst herumgewirbelt.“ Doch es ist beileibe nicht nur die Launigkeit einer glamourösen, aber undurchschaubaren Jahrmarktswelt, die Cohns Figuren aus ihren Träumen gerissen hat.

Seit Bodenspekulationen die Mieten in astronomische Höhen getrieben haben, ist der amerikanische Traum selbst heruntergekommen. Bürgervereinigungen wie die AGONYS (Americans Gloating On New York Slime) sehen den verflossenen Glamour nur noch als Sumpf, den es trockenzulegen gilt. Und er WIRD trockengelegt. Heute, so die vordergründigste Lesart von Cohns Geschichtensammlung, ist der Broadway nicht einmal mehr der in Schlagern verklärte Boulevard Of Broken Dreams; ganz einfach, weil es kaum noch Träumer darauf gibt.

Keine der Figuren beklagt sich, es ist der Chronist selbst, der ihre Erinnerungen gegen bloß noch betriebswirtschaftliche Vorstellungen von sozialem Leben aufbietet. Denn dazu bekannte Cohn sich schon damals, als er die Geschichte des Rock‘n'Roll als Verfallsgeschichte schrieb: Früher war alles besser.

Sein Projekt lebt von der (nicht gerade neuen) poetischen Idee, das Abgelebte sei zugleich das verschleiert Utopische, in ihm versammelten sich die wirren Träume einer Gesellschaft, um sich dem, der sie zu lesen versteht, ein letztes Mal zu zeigen.

Von dieser Chronistenpflicht getrieben, zieht er immer wieder von neuem los, um das Individuelle in der Masse zu finden und zu hegen — ein Broadway Danny Rose der Literatur, der die kaputte Originalität seiner Helden sympathiewerbend gegen die gelackte Nüchternheit von heute ausspielt: Magersüchtige, lederhäutige Rock‘n'Roll-Queens gegen rosiggraue Angestelltengesichter, P.T. Barnums historische Freakshow zwischen Battery und 42.Straße gegen die glasgewordenen Sünden Denver-Clan-artiger Bankarchitektur, das „Aroma vergangener Laster“, das er in abbruchreifen Sexschuppen aufstöbert, gegen das eher ernüchternde Vierfarbposter von „Superslit“, der „geschicktesten Muschi der Welt“; angeblich kann sie Golfbälle einlochen und ihren Kunden das Wechselgeld korrekt herausgeben.

Der Sex ist nicht mehr das, was er einmal war, aber das Geld ist es noch weniger. Die Reichen verschanzen sich in asketischen Lofts und Wohnburgen, statt sich auf rauschenden Abendgesellschaften zu vergnügen, ja, sie trinken noch nicht einmal mehr.

Eine der gelungensten Episoden beschreibt den Aufstieg und Fall von Liquor John. Einst ein erfolgreicher Broker, ein Gentleman unter Gentlemen und großer Liebhaber von Ehrenworten, Whiskeys, Zigarren und all dem anderen Brimborium traditioneller Dollar-Macht, wird er erst schleichend, dann schlagartig von der neuen Generation überrollt. Die Jungen haben nichts mehr am Hut mit Dickens-Figuren, sie sind angestrengte Glücksarbeiter, die sich schwitzend und rufend über ihre Monitore beugen.

En passant skizziert Cohn die gegenwärtige Atmosphäre an der Börse in Szenen, deren Stärke gewiß nicht Analyse ist, aber Drastik: „Es war nicht ganz ersichtlich, was sie eigentlich taten. Es hatte aber anscheinend eine Menge mit analem Sex zu tun. Die Welt war offenbar voller Arschlöcher, die nur darauf aus waren, sich gegenseitig in den Arsch zu ficken, und die einzige Möglichkeit zu überleben war, sie in den Arsch zu ficken, bevor man von ihnen in den Arsch gefickt wurde. Kein Scheiß.“

Der wechselseitige Analverkehr als letzte Zustandsbeschreibung der Comédie Humaine — keine angenehme Vorstellung, aber vielleicht nicht einmal so poetisch frei gedacht, wie es scheint. Cohn mag ein sentimentaler Narr sein, aber er ist kein Betrüger, sein Realismus zwar durch keine erkennbare Gesellschaftstheorie mehr abgefedert, aber immerhin in konkreten Wahrnehmungen verankert: What you see is what you get. Der Gedanke dahinter: Man darf sich heute nicht mehr mit formalen Bedenken abgeben, um eine Sache im Traum zu erwischen. Geistesblitz, Pointierung und Intuition sind die letzten Waffen gegen den Verlust der Gewißheiten.

Kein epochaler Gesellschaftsroman also, keine Wiedergeburt des Realismus aus dem Geiste der großen Erzählung, nicht das Buch, auf das „wir alle“ gewartet haben. „Das Herz der Welt“ ist, vielleicht sogar gegen die Absicht seines Autors, ein eher kleines Ding: die literarische Topographie eines Ortes.

In den immerhin hat sich der Chronist im Gehen ernsthaft verguckt. Beruhigend, daß der Flaneur durch keine Liaison totzukriegen ist.

Nik Cohn: Das Herz der Welt. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag 1992, 390 Seiten, 39,80 DM