Iwanuschkas fliegender Ofen

Rußlands Utopie ist vorbei, und die neue Normalität sieht der alten verflucht ähnlich  ■ VON KLAUS-HELGE DONATH

Apokalyptische Zukunftsvisionen, Hungerkatastrophen und Putschgerüchte gehören auch in diesem Sommer zu den beliebtesten Themen in der Moskauer Medienlandschaft. Anscheinend brauchen die Russen das. Ohne die Angst vor einer noch düsteren Zukunft läßt sich die Mühsal des quälenden Alltags nicht ertragen. Die Antizipation des Leidens wird so zum primus movens der Geschichte, aus der sich das eurasische Riesenreich schon mehrfach verabschieden wollte.

Doch die Geschichte erwies sich als hartnäckiger, als am 19. August letzten Jahres die UdSSR und mit ihr die KPdSU in den Tartarus stürzten. Fast geräuschlos ohne Aufhebens. Am Kraterrand blieben diejenigen stehen, die auf einmal dazu verdonnert waren, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen.

Ein Jahr später sind es in der Tat weniger geworden, die am neuen Projekt noch mitwirken wollen. Sie hatten sich schlichtweg geirrt. Denn sie glaubten, eine neue Zeit der Utopie bräche an. Diesmal mit Marktwirtschaft und schnellem Konsum, ganz wie es die russische Folklore vorsieht: Dummkopf Iwanuschka schläft auf dem Ofen und träumt, daß die Eimer von alleine Wasser holen, während seine Brüder auf dem Feld hart arbeiten. Auf wunderbare Weise wird der Traum auf einmal wahr. Es löst sich das Schulterjoch von seinen seinem Platz und fliegt mit den Eimern zum Brunnen. Der Ofen aber fährt mit Iwanuschka aus der Hütte und zieht im Triumphzug durchs Dorf. Zu guter Letzt besitzt der Dummkopf Iwanuschka die Zauberpferde, besiegt die Feinde und heiratet die Zarentochter. Die phantasielosen Brüder aber ackern weiter.

In einer Zeit der Utopie ist kein Platz für ein normales Leben. Die Utopie verflog schnell und das normale Leben schlug zu. Zugegeben nicht nach unseren Maßstäben. Rußland, das kaum vorbereitet war, traf es besonders hart. Es sollten nicht nur siebzig Jahre Sozialismus aufgeholt werden. Nein — es mußte überhaupt erst die Moderne in Angriff genommen werden. Daß sich so ein Projekt nur über Generationen bewältigen läßt und in Amplituden verläuft, ist allen Betrachtern klar.

Vormodernes Land

Der Westen ignoriert seine eigene Geschichte, wenn er die Erwartungen an Rußland zu hoch schraubt und glaubt, mit finanzieller Hilfe sei schon Wesentliches geleistet. Und wenn seine journalistischen Vorposten jedes Putschgerücht aufgreifen und Hungerkatastrophen transportieren, dann reproduzieren sie nur einmal mehr die Irrationalität dieses Landes, die seinen vormodernen Status unterstreicht.

Dennoch ist Rußland weiter als vor einem Jahr. Es hat sich seines Riesenreiches entledigt und verfügt nun zum ersten Mal über Zeit, um sich auf sich selbst zu besinnen. Die Suche nach nationalstaatlicher Identität, die die Russen als Reichsverwalter nie besaßen, ist schwierig und schmerzhaft. Überall dokumentiert sich zunächst der Verlust. Als Befreiung begreifen es bisher nur wenige.

Die ökonomische Talfahrt bestärkt Tendenzen, die ein Zurück zur Supermachtrolle fordern und den Weg dorthin in einer erneuten Isolation gegenüber dem Westen suchen. Doch das sind mittlerweile Randgruppen, auch wenn ihnen bekannte Meinungsmacher ihre Stimme borgen. Rußland wäre nicht Rußland, wenn es sich so ohne weiteres für die Kopie des westlichen Modells entscheiden könnte. Die literarische Rezeption einer politischen Idee verleiht dieser noch keinen Realitätsgehalt.

Streit-Unkultur

So konnte keiner ernsthaft erwarten, daß sich Rußland innerhalb eines Jahres in eine gut funktionierende Demokratie westlichen Typs verwandeln würde — mit einem pluralistischen Parteiensystem, das auf einem Grundkonsenses beruht, der Interessenstreit für legitim hält. Auf Traditionen in diese Richtung kann Rußland nicht zurückgreifen wie andere ostmitteleuropäische Staaten. Zwar entstanden eine ganze Reihe unterschiedlichster Parteien. Sie spielen aber mit ihren mikroskopischen Anhängerschaften kaum eine Rolle. Sie verfügen meist über keine Programmatik, eher ordnen sie sich um eine symbolträchtige Idee, vor allem aber orientieren sie auf eine starke charismatische Führerpersönlichkeit hin.

Rußland ist ein hochindustrialisiertes Land, aber eben keine Industriegesellschaft. Ausdifferenzierte Interessen, die sich organisieren und soziale Gruppen repräsentieren, sind erst im Entstehen begriffen. Die Menschen haben es nicht gelernt, ihre Interessen zu formulieren und sie „zivilisiert“ vorzutragen. Selbst bei den Exponenten des neuen Systems, der neuen Elite, läßt sich häufig ein eklatanter Mangel an Streitkultur feststellen. Demokratie wird vielerorts noch nicht als Konfliktregulation begriffen, sondern als ungehinderter Zutritt zur politischen Bühne, wo anschließend mit Zehen und Klauen gekämpft werden muß.

Die fehlende Artikulationsfähigkeit der Bürger liegt zum großen Teil an der bisher erzwungenen direkten Abhängigkeit vom Staat. Brücken, die die Interessenvermittlung zwischen Bürgern und Staat ermöglicht hätten, gab es nicht. Erst jetzt zeigen sich Ansätze eines neuen Institutionensystems, das irgendwann einmal derartige Funktionen übernehmen könnte. Bislang begegnen ihnen die Bürger aber auch noch mit Mißtrauen. Alles das, was mit Organisation von Staatlichkeit zu tun hat, weckt per se Argwohn.

Welche Mühe es selbst den aufrechtesten Demokraten bereitet, die Eigendynamik und Unabhängigkeit der Legislative von der Exekutive zu akzeptieren, zeigte der letzte Volksdeputiertenkongreß im April. Hier ging es nicht um die Abstimmung und Korrektur eines politischen Kurses, der sich auf Diskussion stützte. Vielmehr war es ein offener Machtkampf, in dem Exekutive und Legislative sich gegenseitig mit Liquidierung drohten. Ein Randphänomen lediglich, aber bezeichnend, waren die Versuche Politiker aller Couleur, die Presse ausschließlich zu ihren Sprachrohren zu machen.

Angesichts der Unausgereiftheit der politischen Institutionen und der jahrhundertelangen Tradition, vom Wohlwollen der Macht abhängig zu sein, darf es nicht verwundern, wenn die Mehrzahl der Russen ihr Glück in einer Führerpersönlichkeit sucht. Trotz Einbrüchen in seiner Popularität nach den ökonomischen Reformen erfüllt Präsident Jelzin diese Erwartungen bis dato. Das birgt Risiken in sich, gegen die auch ein Jelzin nicht gefeit ist. Machtanhäufung und die Neigung über die Vertikale zu regieren, fördern erneut autoritäre Strukturen und drohen, die zarten Pfänzlinge einer „zivilen Gesellschaft“ zu ersticken.

Primat der Industrie

Wenn auch aus konservativen Motiven gelang es der Legislative immerhin, den Präsidenten von einigen Alleingängen zurückzuhalten, auch unter Anrufung des Verfassungsgerichtes. Zumindest darin bewies das Institutionensystem eine gewisse Funktionsfähigkeit.

Um das Machtvakuum auszufüllen, das mit dem Zusammenbruch der UdSSR entstanden ist, suchte Jelzin nach Sondervollmachten als Präsident. Bis Dezember dieses Jahres konnte er dem Volksdeputiertenkongreß auch Sonderrechte abringen. Aber nicht ohne Gegenleistungen, die zunächst den Anschein wecken, als würde der Reformkurs gedrosselt. Auf Druck des Kongresses holte er Leute ins Verteidugungs und Sicherheitsministerium, die im alten System schon für ihre Hardliner-Position bekannt waren. Und mit den beiden neuen stellvertretenden Premierministern Schumeiko und Chiza nahm er Mitglieder der einflußreichen Industriellenlobby in die Regierungsmannschaft auf.

Gaidar, der für die wirtschaftlichen Reformen verantwortlich zeichnet, hieß diesen Schritt sogar gut. Mit den „Praktikern“ sei man nicht mehr so „isoliert von den sozialpolitischen Realitäten“, bekannte er rundheraus. Allerdings dürfte klar sein, daß damit das ökonomische Schockprogramm eine Verwässerung erfährt.

Der „Russischen Industriellen- und Unternehmerunion“ ist auch an Reformen gelegen, aber nicht weniger an einer Erhaltung der gigantischen Staatsbetriebe, deren Sanierung man aus dem Staatssäckel finanziert haben möchte. Die graue Eminenz im Hintergrund der Industriellenlobby ist Arkadij Wolski, ökonomischer Berater zahlreicher Generalsekretäre der KPdSU und heute Vorsitzender der „Gesamtrussischen Erneuerungsunion“, die die Interessen der Produktionsmanager vertritt. Kürzlich schloß er sich mit der „Demokratischen Partei Rußlands“ von Alexander Trawkin und der „Volkspartei Freies Rußland“ zu einem Block zusammen, der „BürgerUnion“. Beide Parteien sind die einzigen Organisationen, die sich mit Fug und Recht so nennen dürfen. Letztere spricht von etwa 100.000 Mitgliedern, die in ihrer Mehrheit aus den reformorientierten Zirkeln der KPdSU stammen.

Nachdem die antikommunistische, ursprünglich radikaldemokratische Bewegung „Demokratisches Rußland“ in sich zerfiel und dem Präsidenten keine Massenbasis schaffen konnte, mußte Jelzin, um sich gegen rechts zu verteidigen, diese Links-Zentrums-Koalition eingehen. Vielleicht erweist sie sich gar nicht als falsch. Mit dem Kampfflieger und Vizepräsidenten Rutskoi, Präsident der Volkspartei, könnten auch das Militär und weite Kreise der Nationaldemokraten eingebunden werden, die keinen explizit westlichen Entwicklungsweg einschlagen wollen, andererseits aber nicht wieder mit den National-Patrioten auf dem russischen Sonderweg in der Isolation enden möchten.

Jelzins Sonderweg

In der Einrichtung eines „Sicherheitsrates beim Präsidenten“ im Juli materialisiert sich diese Koalition. Zwar kommt den Beschlüssen des Rates keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Präsidenten zu. Doch wird sich Jelzin dem Einfluß kaum entziehen können. Bisher gehören ihm der nicht gerade reformfreundliche Jurij Skokow an, Alexander Rutskoi, der Vizevorsitzende des Parlaments Sergej Filatow und Jegor Gaidar, der dort die Rolle eines „Menschewiken“ übernehmen müßte. Kritiker nennen das Gremium ein Notstandskomitee mit einem Schein von Legalität. Offenkundig blieb Jelzin nichts anderes übrig nach dem Zerfall des „Demokratischen Rußlands“, als sich auf die Solidarität der alten Nomenklatura mit dem militärisch-industriellen Komplex zu stützen, um seine Präsidentialmacht zu sichern. Indirekt hat sich der Präsident damit schon von seiner Regierungsmannschaft abgesetzt. Auf alle Fälle, um zu überleben, wenn sie untergeht.

Diese Entwicklung bedeutet aber nicht zwangsläufig ein Ende des Reformkurses. Er wird nur anders aussehen und mag auch autoritäre Züge annehmen. Immerhin scheint damit gewiß zu sein: Weder verfällt Rußland in einen antiwestlichen Fundamentalismus noch wird es die westlichen Demokratien zur Blaupause nehmen. Und die Gefahr einer Modernisierungsdiktatur scheint ebenfalls gebannt. Der Zusammenbruch und die Phase des Umbruchs verliefen dafür zu friedlich — als hätte die Gesellschaft intuitiv begriffen, daß Repressionen die Probleme nicht lösen.

Rußland wird somit seinen eigenen Weg gehen. Zu glauben, es käme anders, wäre auch naiv gewesen. Wie sagte noch Fjodor Tschutjew? „Rußland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen, mit der gewöhnlichen Elle nicht zu messen. Es hat einen besonderen Charakter — an Rußland muß man glauben“.

Man muß sich wohl auf dieses Wagnis einlassen.