Rußlands Balkanpolitik spiegelt innere Verwerfungen

Konservative Ideologen unterminieren im Obersten Sowjet und in den Medien die vorsichtig-pragmatische Jugoslawienpolitik von Außenminister Kosyrew/ Jelzins impulsive Anerkennung Mazedoniens als Gastgeschenk für Bulgarien  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Die Öffentlichkeit in Rußland nimmt wenig Anteil am Jugoslawienkonflikt. Zwar zeigte über Monate das Fernsehen allabendlich grauenvolle Bilder aus dem Krisengebiet, doch heben sie sich kaum von den brutalen Schlachtereien in Nagorny-Karabach, Moldawien oder Georgien ab — Gebieten, die den Russen schließlich näher sind als die Adria. Auch die Zeitungen schenken den Entwicklungen auf dem Balkan wenig Aufmerksamkeit. Erst Boris Jelzins Bulgarienvisite und sein großzügiges Gastgeschenk an Sofia, die Anerkennung Mazedoniens, offenbarte, daß Rußland auf dem Balkan noch ein Stück eigene Politik zu verfolgen gedenkt.

Jelzins Schritt kam unerwartet, und ein Kommentator der Nesawissimaja Gaseta erklärte es sich mit den Gewohnheiten des Präsidenten: Überall wo Jelzin im Lande hinreist, reagiert er auf Klagen der Bevölkerung mit Geschenken — hier ein Flugzeug mit Geld, dort wird flugs ein korrupter Beamter abgesäbelt, und in Bulgarien — eben Mazedonien anerkannt. Sofia habe ja schließlich immer „irgendwie“ zum russischen Einflußgebiet dazugehört. An dieser Erklärung ist einiges dran, doch sie unterschätzt die Bedeutung der gegewärtigen Jugoslawiendebatte in der russischen Innenpolitik.

Ein Spiegel dessen ist die in jüngster Zeit zur offiziellen politischen Linie Außenminister Kosyrews konträre und eingefärbte Berichterstattung vor allem des zentralen russischen Fernsehens. Schon vor zwei Monaten beklagte sich der Außenminister, das Fernsehen habe die Bilder, die ein Team während seiner Vermittlungsreise aufgenommen habe, nicht gebracht. Sie zeigten serbisches Militär im Einsatz. „Offensichtlich hatten sie irgendein Propagandamaterial des nationalpatriotischen Regimes in Belgrad erwartet“, kommentierte Kosyrew. Heute bleibt es nicht mehr bei „ausgesondertem“ Filmmaterial. Nach der privaten Reise des Leiters des außenpolitischen Ausschusses im Obersten Sowjet, Ambarzumow, und seines Kollegen Rjumanzow — er sitzt der Verfassungskommission vor — wurden die Dokumentaristen wieder zu waschechten Ideologen. Was hatten die beiden mitgebracht? Ein Interview mit einem kroatischen Gefangenen, der das Essen pries, seinen Freigang schätzte und sich ansonsten wie im Sportinternat fühlte. Kommentar Ambarzumows, der noch vor einem Jahr zu den Liberalen zählte: Konzentrationslager gibt es in Jugoslawien nicht. Das sei eine Erfindung der antiserbischen Presse. In diesem Tenor ging es weiter. Doch damit nicht genug. Der ansonsten um Objektivität bemühte Deutschlandkorrespondent zog gleich den welthistorischen Faden. Filmausschnitte von Kohl und Engholm sollten die kriegerische Haltung der Bundesrepublik belegen, die in historischer Kontinuität die Seite der Kroaten ergreift. Hierfür wurden Schlachtszenen aus dem Weltkrieg eingespielt — in einer Nachrichtensendung.

Ambarzumow steht mit seiner Auffassung in der Intellektuellenzunft nicht allein. Der Großteil des konservativen Obersten Sowjets geißelt die offizielle russische Außenpolitik ohnehin. Ausverkauf, Verzichtspolitik und Liebedienerei gegenüber dem Westen und im Falle Jugoslawiens — den Verrat an einem slawischen Bruder — halten sie Kosyrew vor. Aus Solidarität mit dem Westen dürfe Rußland nicht seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen opfern, schrieb sogar die ansonsten liberale Moscow News. Ambarzumow sah die russische Position schon den Schwankungen des amerikanischen Wahlkampfes ausgesetzt.

Alte Ängste werden wieder wach. Der Westen und die Türkei hätten ein Interesse an einem geschwächten Serbien und unbedeutenden Vasallenstaaten. Dahinter lugt die alte Verschwörungstheorie hervor: Am Ende wird Rußland wieder das Opfer sein. Und wer steckt hinter dem Ganzen? Das wiedervereinigte Deutschland, das seine neugewonnene Position dazu nutze, um eine zerstörerische Politik zu betreiben. Das sind Stimmen aus dem intellektuellen Lager, sie decken sich nicht mit der offiziellen Außenpolitik.

Konservative und National-Demokraten haben den Verlust des Imperiums nicht verwunden. Erst jetzt wird ihnen das Trauma bewußt. Die fehlende Nationalstaatlichkeit Rußlands — die keinen Identifikationsansatz in der Geschichte bereithält — zwingt sie zum Rückgriff auf alte Muster. Wie läßt sich anders erklären, daß nur Serben slawische Brüder sind? Gehören Slowenen, Kroaten und Bosnier etwa nicht zu den Slawen, sind die Mazedonier nicht auch orthodoxe Christen? Offenkundig sehen diese Kräfte in der Vormachtstellung Großserbiens auf dem Balkan eine Parallele zu Rußlands Rolle im geschrumpften, aber noch nicht auf ewig verloren gegebenen Imperium. Panslawismus oder Panorthodoxie müssen bei den gerade flüggegewordenen Anrainerstaaten erhebliche Irritationen hervorrufen.

Das kümmert die Großrussen nicht. Davon gibt es viele — eben auch in Jelzins Entourage. Einer der wenigen, die sich vom Joch des Imperiums, das Rußland schließlich zu vielen Opfern zwang, frei gemacht hat, ist der unbeliebte und immer wieder vom Absturz bedrohte Außenminister Kosyrew. In der Jugoslawienfrage gelang es ihm bisher immerhin, Rußland vor einem erneuten Schritt in die Isolation zu bewahren.