Herbstliche Melancholie

„Moviemientos 92“ — Die Mammutschau des lateinamerikanischen Theaters startet in Hamburg  ■ Von Till Briegleb

Das diesjährige Internationale Sommertheater auf Kampnagel in Hamburg, das unter dem Motto „Movimientos 92“ steht, begann ganz unsommerlich mit Regen, Fäulnis und Melancholie. Donnerschläge und Totenglocken läuteten den Beginn der größten Schau des lateinamerikanischen Theaters, die jemals in Europa zu sehen war, ein und verliehen dem Auftakt eine ganz andere Temperatur, als so mancher Südamerika-Begeisterter im Publikum es sich vorgestellt haben mochte. Denn Carlos Gimenez' Inszenierung des kurzen Gabriel-Garcia-Marquez-Romans „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ rückte sowohl die meterologischen wie die gesellschaftlichen Schattenseiten Südamerikas ins dämmrige Bühnenlicht.

Die Geschichte ist kurz erzählt: Der Oberst, ein Veteran der kolumbianischen Revolutionsarmee, die um die Jahrhundertwende versucht hatte, die Republik wieder einzuführen, wartet seit fast fünzig Jahren auf eine versprochene Pension. Mit seiner Frau lebt er in einem namenlosen Dorf, alles Verkäufliche ist inzwischen entäußert, der Sohn vor neun Monaten wegen angeblicher politischer Umtriebe bei einem Hahnenkampf erschossen worden, und die Perspektive des Hungertodes nimmt langsam Konturen an. Letzter wertvoller Besitz des Oberst ist der Kampfhahn seines Sohnes. Doch aus trotzigem Stolz und vager Hoffnung, mit dem Tier in der Arena ein Vermögen zu machen, wehrt er sich beharrlich gegen das Drängen seiner Frau, den Hahn zu verkaufen, damit sie nicht verhungern müssen.

Carlos Gimenez, der mit seiner Theaterorganisation „Rajatabla“ und als Leiter des Festivals von Caracas seit fast zwanzig Jahren die venezolanische Theaterszene dominiert und enorme Bedeutung für das südamerikanische Theater hat, inszeniert diese Tragödie vom verratenen und gescheiterten Mann der Mittelschicht als fiebrigen Traum. Ein paar Wege des Oberst zur Postausgabe und zum Dorfpatron und einige Gespräche mit seinem Arzt, den Freunden seines Sohnes und die Streits mit seiner Frau bilden die karge Handlung, in Verlauf derer Gimenez mit schlichten Mitteln kontinuierlich die Raum- und Zeitebenen des Stückes verwischt. Aus der kleinen Wellblechhütte des Oberst entstehen durch Verschieben der Wände verschiedene Orte und Labyrinthe, wo er sowohl reale Geschehnisse durchlebt, als auch Vergangenes und surreale Szenen sieht.

Sein stures Hoffen — daß endlich der Brief mit dem Pensionsgeld kommen möge oder der Hahn sie zu Wohlstand führe — und sein tragischer Stolz, der es ihm verbietet zu kapitulieren, selbst wenn die Umstände übermächtig und aussichtslos werden, lassen den Oberst als Märtyrer für die Würde des Menschen erscheinen, der am Ende alleine im Nichts zurückbleibt.

Diesen Kampf um Respekt, dieses Verweigern der Unterwerfung und der Demutsbezeugung, das Insistieren auf das Recht des Individuums verklärt Gimenez allerdings zu einer magischen Parabel. Mit Focus auf den Konflikt der Eheleute und mit seiner ganz in Brauntönen gehaltenen, herbstlich gefärbten Bildsprache erzeugt Gimenez eine melancholische Ergriffenheit für das persönliche Schicksal, die die politische Realität im Verlauf des Stückes zunehmend aus dem Bewußtsein verdrängt. Diktatur und Unrecht erscheinen wie ein feststehendes Regelwerk, in dem Hunger und Resignation zum persönlichen Problem gerinnen.

So gewinnt Gimenez sein Publikum mit dick aufgetragener Atmosphäre und dank zweier brillanter Schauspieler, Jose Tejera als Oberst und Aura Rivas als dessen Frau, die er sehr sensibel in Szene setzt. Aus dem Bann der Tragödie aber bricht die wenig innovative Inszenierung nirgends aus.

Nach diesem verhalten überzeugenden Auftakt folgt nun drei Wochen lang ein Mammutprogramm, das in Europa überwiegend unbekannte Gruppen vorstellt. Dank einer eineinhalb Millionen Mark hohen Unterstützung des Auswärtigen Amtes, mit der das Festival den fragwürdigen Titel „Beitrag zum Kolumbusjahr“ erwarb, konnten in Hamburg 24 Gruppen eingeladen werden, von denen 19 auch bei der „Ibero-Americana“ in Köln auftreten werden. Mit einem Gesamtetat von 4,5 Millionen steigt „Movimientos 92“ damit in die Festival-Europaliga auf. Dabei werden Stars des lateinamerikanischen Theaters wie Gerald Thomas, Macunaima oder David Amitin ebenso Produktionen zeigen wie eine Unzahl von Gruppen, die noch niemals außerhalb ihres Halbkontinents aufgetreten sind. Compagnien wie Organización Negra, El Descueve, Integro oder Boi Voador zählen zur Avantgarde des lateinamerikanischen Theaters, die sich zu völlig neuen und eigenen Formen und Aussagen durchgearbeitet hat. Auch einige europäische Kompagnien werden in Hamburg Produktionen vorstellen, die sich mit dem Themenkreis Lateinamerika beschäftigen. Etwa die spanische Tanztheater-Gruppe Danat Danza, Esther Linley oder Angels Margarit.

Ein umfangreiches Rahmenprogramm aus Gesprächen mit Regisseuren, Übersetzern (u.a. Curt Meyer-Clason) und Theaterwissenschaftlern soll einen leichteren Zugang zu den einzelnen Stücken erlauben, die von den Festivalleitern Dieter Jaenicke und Gabriele Naumann unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden sind, „erkennbar Latino“ zu sein. Mehr als je zuvor verlangt das neunte Sommertheater also nach Entdeckung. Auf daß die Eroberer diesmal die anderen sind.

„Rajatabla“ unter der Regie von Carlos Giminez ist vom 20.-22.8. in der Kölner Musikhochschule zu Gast.